Die 1929 ausgelöste Weltwirtschaftskrise traf die österreichische Wirtschaft besonders hart. Auch die Tiroler Marktgemeinde Wörgl spürte die Auswirkungen des Börsencrashs. Die Produktion der lokalen Zellulosefabrik wurde gestoppt: Nur mehr zehn von ursprünglich 410 Mitarbeitern sind in der Fabrik beschäftigt und bewachen die Maschinen. Das Zementwerk hat längst zugesperrt. Mehr als 700 Beschäftigte – allein nur aus diesen beiden Fabriken – stehen ohne Arbeit da.
Die Arbeitslosenzahlen steigen. Im Jahr 1932 sind von 4200 Einwohnern Wörgls rund 400 Menschen ohne Beschäftigung. Die Arbeitslosen und ihre Familien sind auf die Unterstützung der Armenfürsorge der Gemeinde angewiesen – und das bei einer leeren Gemeindekasse. Dies zeigt sich auch in der gemeindeeigenen maroden Infrastruktur. In der Bahnhofstraße pinselt jemand auf eine Gebäudewand: „Wörgl: Das schlimmste deiner Laster ist dein Straßenpflaster“.
Ein Jahr zuvor wurde per Losentscheid der Sozialdemokrat Michael Unterguggenberger zum Bürgermeister gewählt. Er hat eine Idee, wie die lokale Wirtschaft wieder angekurbelt und der wachsenden Armut entgegen getreten kann. Mit einer alternativen Währung will er das „träge Geld der Nationalbank“ ersetzen beziehungsweise ergänzen. Er spricht mit allen Parteien und überzeugt seine politischen Gegner. Obwohl aus der Kirche ausgetreten, holt Unterguggenberger selbst den Pfarrer ins Boot. Er erreicht einen Konsens: das Wörgler Wunder beginnt.
Mit dem umlaufgesicherten Freigeld – im engeren Sinne waren dies Arbeitswertscheine – schuf der Bürgermeister einen Gegenpol zum damals üblichen Horten des Geldes. Die galoppierende Deflation veranlasste Menschen kein Geld mehr auszugeben. Hier kam das Freigeld als Schwundwährung ins Spiel. Die ausgegebenen Geldscheine verloren an Wert, wenn diese nicht spätestens monatlich ausgegeben wurden. Wer die Note nicht ausgab, musste eine Marke mit einer Gebühr von einem Prozent des Notenwerts kaufen und an den vorhandenen Schein kleben, damit diese ihren Ursprungswert behielt. Da niemand Geld „verlieren“ wollte, wurden die Scheine schnell ausgegeben. Die Wirtschaft im Ort nahm wieder Fahrt auf. Während das restliche Land tief in der Wirtschaftskrise steckte, wurden Geldkreislauf und Wirtschaftstätigkeit in Wörgl wiederbelebt.
Straßen wurden repariert, Abwasserkanäle und Straßenbeleuchtungen gebaut. Errichtete Wanderwege, Freibäder und Sprungschanzen kurbelten den Tourismus an. Der rasche Umlauf dieser Arbeitswertscheine war das Erfolgsrezept der Wörgler Idee. Das Zahlungsmittel blieb im Ort, förderte die lokale Wertschöpfung sowie die Bindung zur lokalen Kaufkraft. Die Scheine konnten jederzeit in den normalen Schilling gewechselt werden – gegen eine Gebühr von 2 Prozent. Sämtliche eingenommenen Gebühren, wie die monatliche Klebemarkengebühr oder Rücktauschgebühr, verwendete die Gemeinde für die Armenfürsorge. Die Arbeitslosigkeit sank in dieser Zeit in der Gemeinde um 16 Prozent, während sie in gesamt Österreich um 19 Prozent stieg.
Das Interesse am „Wunder von Wörgl“ stieg rasant. Weitere Gemeinden im Wörgler Umkreis folgten dem Beispiel der Gemeinde. Sogar der französische Finanzminister Édouard Daladier reiste nach Tirol, um sich über das Wunder zu informieren. Auch der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Irving Fisher schlug der Regierung in Washington vor, das Wörgl-Prinzip zur Überwindung der Wirtschaftskrise einzuführen. Im Mai 1933 forderten rund 200 österreichische Gemeinden vom österreichischen Parlament, den gesetzlichen Rahmen für Freigeld nach Wörgler Beispiel zu schaffen. Österreich war jedoch am Weg zum Ständestaat, das Parlament bereits ausgeschalten. Die Österreichische Nationalbank erhob bei Gericht Einspruch und das erfolgreich: Nur ihr stand das Recht auf Ausgabe von Münzen und Banknoten zu. Nach der Einführung der Schwundwährung im Juli 1932, musste das Wörgler Experiment unter Androhung von Polizeieinsatz im September 1933 beendet werden.
Die Freiwirtschaftsbewegung beruht auf dem Wirtschaftsmodell der Freiwirtschaft des deutsch-argentinischen Freigeld-Erfinders Silvio Gesell. Dieser erkannte vor mehr als 100 Jahren, dass das Prinzip des Zinseszins eine Schieflage entstehen und die Schere zwischen Arm und Reich stets größer werden lässt. Geld, als Tauschmittel der Wirtschaft, kann nicht anders funktionieren als die Wirtschaft selbst: Wird etwas nicht angenommen, muss es billiger werden. Eine Wirtschaft, so eine These von Silvio Gesell, kann mit zinseszinsbelasteten Schuldgeld, das unendliches Wachstum benötigt, nicht stabil sein. Geld solle so wie Realwirtschaft organisiert sein: Nicht das Horten von Geld mit Zinsen belohnen, sondern das Geld besteuern.
Gesells Idee wurde in Wörgl als umlaufgesichertes Freigeld umgesetzt. Jedoch nicht als ersetzendes, sondern als ergänzendes Geldmittel. Als Beweis für eine großräumig funktionierende Freiwirtschaft kann das Wunder von Wörgl zwar nicht gerade stehen. Aber es zeigt deutlich, wie die allgemein bekannten „Spielregeln des Systems“ zugunsten des Gemeinwohls auf lokaler Ebene verändert werden können.
Weitere Informationen zum Wunder von Wörgl
Im Juni 2003 wurde das Unterguggenberger Institut als gemeinnütziger Verein gegründet. Die Einrichtung ist nach Bürgermeister Michael Unterguggenberger benannt, der 1932/33 in Wörgl mit Freigeld als regional gültiger Zweitwährung wirkungsvoll die Wirtschaftskrise bekämpfte.
Dokumentation „Der Geldmacher – Das Experiment des Michael Unterguggenberger“ – zu finden auf Youtube
Spielfilm „Das Wunder von Wörgl“, 2018, Mit: Karl Markovics, Verena Altenberger, u.A.