Demokratie & Bürgerrechte

Bedroht die Corona-Krise unsere Verfassung?

In unserer ersten Kolumne für derdiedasrespekt haben wir gefragt, ob Österreich in guter Verfassung ist. Dahinter stand die Frage, ob die Verfassung ausreichend Schutz dafür bietet, dass auch in schwierigen Zeiten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte halten.

Inzwischen hat sich viel getan. In vielen Ländern fahren Parlamente einen Notbetrieb. Es braucht jetzt schnelle Entscheidungen und nicht lange Debatten, heißt es überall. In unserem Nachbarland Ungarn wurde ein Notstandsgesetz beschlossen, mit dem die Regierung auf unbestimmte Zeit Entscheidungen ohne das Parlament treffen kann. Auch in Österreich setzen sich mehr und mehr Jurist*innen kritisch mit den getroffenen Maßnahmen auseinander, und viele Menschen beginnen, sich um die Demokratie zu sorgen.

Politiker*innen, allen voran der Bundeskanzler, sagen jetzt, dass man nicht auf jeden Punkt und Beistrich schauen soll. Niemand habe vor, dass diese Maßnahmen lange dauern sollen, und danach könne der Verfassungsgerichtshof alles überprüfen. Aber ist das so, dass Jurist*innen, besorgte Bürger*innen jetzt übertreiben und, pingelig, wie man sie sich eben vorstellt, nach jedem Haar in der Suppe suchen?

Es ist an dieser Stelle einmal ganz gut, zwischen der Änderung der Verfassung und Änderungen im Verständnis der Verfassung zu unterscheiden:

Wenn in Österreich der Bundeskanzler mehr Macht bekommen soll, wenn Gesetze ohne das Parlament erlassen werden sollen, oder wenn die Möglichkeit, sich gegen staatliche Maßnahmen wehren zu können, beschränkt werden soll, dann muss die Bundesverfassung geändert werden. Alles, was im Staat passiert, muss nämlich eine Grundlage in der Verfassung haben. Für eine Verfassungsänderung muss der Nationalrat zusammenkommen. Es muss mindestens die Hälfte der Abgeordneten da sein, und zwei Drittel von ihnen müssen zustimmen. In manchen Fällen, nämlich dann, wenn auch Bereiche betroffen sind, für die die Bundesländer zuständig sind, braucht es auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Wenn eine Änderung der Verfassung besonders weit geht (so wie in den Beispielen am Beginn des Absatzes), dann spricht man auch von einer Gesamtänderung der Verfassung. Eine solche ist nur möglich, wenn es dazu auch eine Mehrheit in einer Volksabstimmung gibt. Bisher gab es das nur einmal, als 1994 über den EU-Beitritt abgestimmt wurde.

Zuletzt wurde auch die Bundesverfassung geändert. Aber das hat eher technische Bestimmungen betroffen. So wurde etwa ermöglicht, dass die Bundesregierung im Rahmen einer Videokonferenz Beschlüsse fassen kann. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament scheinen weitreichende Verfassungsänderungen ausgeschlossen. Auch eine Volksabstimmung wird jetzt niemand durchführen wollen.

Die Verfassung sichert Grundrechte, schreibt Verfahren vor und garantiert somit ein Mindestmaß an Information und Mitsprache.

Ganz anders ist es aber mit dem Verständnis der Verfassung. Die österreichische Bundesverfassung wird im Oktober dieses Jahres 100 Jahre alt. Viele ihrer Bestimmungen stammen also noch aus dem Jahr 1920. Sie sind, wie das für Verfassungen so üblich ist, oft sehr knapp geschrieben. Das heißt, es gibt immer auch einen Spielraum dafür, wie eine Bestimmung „ausgelegt“ wird. Und wir können uns gut vorstellen, dass sich die Auslegung in 100 Jahren immer wieder verändert hat: Gesellschaft und Wirtschaft verändern sich, es gibt neue Technologien, neue Herausforderungen.

Aber wer legt die Verfassung aus? Wer soll, um einen Ausdruck zu verwenden, über den schon in den 1920er-Jahren gestritten wurde, der*die „Hüter*in der Verfassung“ sein?“ Zunächst einmal hat jede*r, der*die Gesetze anwendet, auf die Verfassung zu achten. Das heißt, auch wenn ein*e Polizist*in einen Strafbescheid ausstellt, darf er*sie nicht gegen die Verfassung verstoßen. Wenn der Nationalrat ein neues Gesetz beschließt, sollen die Vorgaben der Verfassung beachtet werden. Wenn ein*e Minister*in eine Verordnung erlässt, darf er*sie das nur so machen, wie es in der Verfassung vorgesehen ist.

Die Bundesverfassung sieht vor, dass das alles überprüft werden kann. Ein Verwaltungsgericht kann den Strafbescheid überprüfen, der Bundespräsident prüft, ob im Nationalrat alle Verfahrensschritte für einen Gesetzesbeschluss beachtet wurden. Der Verfassungsgerichtshof kann prüfen, ob ein Gesetz der Verfassung entspricht, oder ob eine Verordnung den Vorgaben der Gesetze entspricht. Für eine solche Prüfung legen sie jeweils die Bundesverfassung aus. Das muss aber in öffentlicher Form passieren: Die Entscheidungen der Gerichte werden veröffentlicht und stehen damit zur Debatte. Anwält*innen greifen darauf zurück, wenn sie etwas bei Gericht einbringen. Wissenschaftler*innen  an Universitäten diskutieren und schreiben darüber. In Zeitungen können Debatten entstehen. In einer Demokratie sollen so alle zu Hüter*innen der Verfassung werden können.

Und das ist auch wichtig: Die Verfassung sichert Grundrechte, schreibt Verfahren vor und garantiert somit ein Mindestmaß an Information und Mitsprache. Die Verfassung soll als Grundlage unseres Zusammenlebens stabil bleiben. Ihre Regeln sollen nicht von heute auf morgen anders verstanden werden. Genau das fordern viele jetzt ein. Sie sind daher alles andere als „Paragraphenreiter“ und „Bedenkenträger“, die vielleicht selbst gern entscheiden würden oder anderen neidig sind, dass sie jetzt im Rampenlicht stehen.

Aber, kann jetzt eingewandt werden, das ist alles schön und gut und demokratisch. Wir brauchen halt trotzdem jemanden, der klipp und klar sagt, was Sache ist. Stimmt. Dafür gibt es den Verfassungsgerichtshof. Er sagt in einem Streitfall abschließend, wie die Verfassung zu verstehen ist. Die Schwierigkeit dabei ist aber, dass der Verfassungsgerichtshof nur „sprechen“ kann, wenn er in einem ganz konkreten Fall entscheiden muss. Er kann nicht von sich aus tätig werden. Und weil der Verfassungsgerichtshof kein ständiges Gericht ist, sondern grundsätzlich nur vier Mal pro Jahr für einige Wochen tagt, braucht es Zeit, bis ein Fall zum Verfassungsgerichtshof kommt (dazu kommt noch, dass in vielen Fällen Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte davor entscheiden müssen). Es kann also Monate oder sogar ein Jahr dauern, bis eine Entscheidung getroffen wird. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass jetzt viele aufmerksam bleiben und genau nachfragen.

unsereverfassung.at

Mehr zur Bundesverfassung und Corona gibt es im aktuellen Themenschwerpunkt von unsereVerfassung.

Mehr zu den Grundlagen von Rechtsstaat und Demokratie findet sich in den Basistexten auf www.unsereverfassung.at.

Weitergehende (und internationale) Debatten über Verfassung, Demokratie, Grundrechte und die Bekämpfung von COVID-19 werden unter anderem auf www.verfassungsblog.de geführt.

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