Ein kleines Buch mit großem Einfluss.
Die beiden Autor*innen, Professor*innen der Politikwissenschaft in Potsdam (Nanz) und Gießen (Leggewie) schlagen nicht mehr und nicht weniger als eine strukturelle Erweiterung des legislativen Prozesses vor, die Ergänzung der Gewaltenteilung durch das, was sie „die Konsultative“ nennen.
Partizipation und Deliberation sind in den letzten 40 Jahren, seit den großen Bürgerbewegungen gegen Atomstrom und Naturzerstörung (Hainburg!) die großen Brocken im Demokratie-Reform-Diskurs und stark von Jürgen Habermas Ideen zur Diskursdemokratie geprägt, also der Idee einer verständnisorientierten, qualitativen und geregelten Kommunikation, die die Basis demokratischer Entscheidungen bildet.
Die Realität unserer demokratischen Gemeinwesen schaut bekanntlich anders aus. Colin Crouch hat schon vor ca. zehn Jahren den Begriff der „Post-Demokratie“ eingeführt, um die Aushöhlung demokratischer Entscheidungsprozesse durch die Kapitalmaximierungsinteressen von Konzernen zu thematisieren. Die Wohlfahrtsstaaten sind keine mehr, die Armen werden ärmer und die Reichen reicher, Demokratien delegitimieren sich zunehmend selbst und bauen sich in autoritärere Systeme um – die Beispiele hierfür brauchen nicht angeführt werden. Wir selbst leben in einem Land, das immer schlechtere Noten im Demokratie-Ranking bekommt.
„Die Konsultative“ ist ein offensiv freundlicher Versuch der Gegensteuerung und zugleich ein interessanter demokratie-struktureller Vorschlag.
„Zukunftsräte“, so die Idee, auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung geben: im Grätzl, der Gemeinde, dem Bezirk, dem Bundesland, der Republik.
Jeder Zukunftsrat besteht aus rund 15 Menschen, die – per Zufallsprinzip ausgewählt – für eine Zeit von zwei Jahren zu Beratungen zusammentreten (und dafür renummeriert werden, sodass die Fairness der Teilnahme gewährleistet ist). Beraten werden Themen, die an den Zukunftsrat herangetragen werden: Soll der Gehsteig verbreitert werden? Brauchen wir ein neues Einkaufszentrum? Soll die Solaranlage in der Region XY gebaut werden? Wollen wir ein neues Staatsbürgerschaftsrecht?
Nach der „Amtsperiode“ von zwei Jahren können die Mitglieder ausscheiden oder, wenn sie das möchten und Plätze zur Verfügung stehen, auf andere Ebenen wechseln. Der Wunsch ist hier, dass die angesammelte Expertise nicht verloren geht und in anderen Ebenen der Deliberation genutzt werden kann.
An Beispielen für Fragen aus dem Gemeinwohl und der Politik ist kein Mangel: Grundsätzlich können/sollten(?) alle Fragen, die das Zusammenleben betreffen, beraten werden. Die Ergebnisse der Beratungen gehen in die Entscheidungsprozesse der repräsentativen/parlamentarischen Politikebene ein. Die Konsultative soll im Sinne der Autoren eine strukturelle Einrichtung sein, eine „vierte Macht“ neben Legislative, Exekutive und Judikative.
Ihre Beratungsergebnisse haben zwar keine zwingende Verbindlichkeit, aber doch einen hohen Impact und es wird erwartet, dass man sich nicht einfach über diese vierte Gewalt hinwegsetzen kann.
Dieses Modell hat sehr viel für sich, es macht eine kleine praktische Utopie auf, die die Demokratie in unseren Ländern fühlbarer, machbarer, menschennäher und – wie man erwarten darf – wohl auch gerechter machen kann.
Liebe Stadt Wien, wie wäre es? Will nicht die kommende Koalition das Modell tätig ausprobieren und Wien zu einem praktischen Versuchsfeld von Zukunftsräten machen? Das wäre echt cool – „Wien ist Zukunftsrat“ sehe ich schon auf den Plakatwänden!
Haben wir Ihr Interesse geweckt?
Nanz, P., Leggewie, C. (2018): Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung. Berlin: Klaus Wagenbach
Das Buch ist entweder direkt beim Verlag oder in österreichischen Buchhandlungen zu erwerben.
Autor*innen
Patricia Nanz, Politikwissenschaftlerin, leitet das Institut für nachhaltige Transformationsforschung an der Uni Potsdam und ist führend im Beratungsgremium Nachhaltigkeit der Bundesregierung Deutschland.
Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler in Gießen.