Armut & Sozialstaat

Caritas Kältetelefon: Anrufe retten Menschenleben

„Noch 200 Meter“, meint Susanne und blickt auf die Kilometermarke am verregneten Straßenboden auf der Donauinsel. Der Kältebus nähert sich der Stelle, an der ein Zelt sein soll, wie kurze Zeit vorher jemand an das Kältetelefon gemeldet hatte. Ob sich im Zelt ein Mensch aufhält ist nicht klar. Susanne und ihre Kollegin Magdalena sind Streetworkerinnen der Caritas und an diesem Dienstagabend mit dem Kältebus in Wien unterwegs. Es ist kurz nach 19 Uhr, als der Kleinbus zum Stehen kommt.

Kältetelefon Caritas

Bereits im 8. Jahr können Wiener*innen über die Nummer 01- 480 45 53 Aufenthaltsorte und Schlaflager obdachloser Menschen melden und so mithelfen, dass niemand im Winter zu Schaden kommt. Die Streetworker*innen gehen den Meldungen nach und bieten den Menschen ihre Hilfe an, bringen sie in Notquartiere oder geben bei Bedarf Schlafsäcke ab, deren Extremtemperatur bis minus 24°C reicht. Im äußersten Fall kann das Kältetelefon sogar Leben retten. Die Streetworker*innen sind im Winter jeden Abend in einem Zweierteam unterwegs, mittwochs begleitet sie ein Psychiater.

Im Kältebus |

Auch an diesem nasskalten Abend befinden sich Schlafsäcke im Kofferraum des Kältebusses, außerdem noch Wasserflaschen, Mannerschnitten, Decken, Socken und Hygieneartikel. Zuerst muss jedoch das Zelt im gemeldeten Bereich auf der Donauinsel gefunden werden. Mit Taschenlampen leuchten Susanne und Magdalena das angrenzende Waldstück und die umliegende Gegend ab – kein Zelt in Sicht. Wurde es bereits wieder abgebaut? Sie gehen zurück zum Bus und studieren die Standortmeldung noch genauer, auch den ausgedruckte Umgebungsplan. „Eher auf der anderen Inselseite”, meinen sie und der zweite Suchlauf beginnt.

Er ist stolz - hier hat er sein kleines Paradies gefunden.

Bei Nieselregen bewegen sie Schritt für Schritt durch das kleine Waldstück, die Taschenlampen abwechselnd auf den feuchten Waldboden und das teils karge Buschwerk gerichtet. Die Lichter der Stadt erleuchten nur den Himmel. Nach einigen Minuten sehen wir das Zelt: am Ende einer Wiese unter den ersten Bäumen am Waldrand. Susanne und Magdalena nähern sich langsam und machen sich bemerkbar. Aus dem Zelt meldet sich eine Stimme zurück, kurz darauf erscheint Tobi*.

Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte

Eine Scheidung manövrierte den früheren Programmierer vor zehn Jahren in die Obdachlosigkeit. Tobi* ist gut ausgerüstet, drei Zelte kann er sein Eigen nennen. Er ist stolz – hier hat er sein kleines Paradies gefunden, wie er selbst sagt. Seit einigen Monaten ist er jetzt schon auf der Donauinsel. Susanne erklärt ihm, dass er jetzt wohl nur der kalten Jahreszeit wegen geduldet wird. Spätestens mit dem Frühlingsbeginn wird er seinen Platz räumen müssen. In ein Notquartier will er nicht, auch andere Einrichtungen für obdachlose Menschen können ihn nicht begeistern. Der gesprächige und geruchsempfindliche Frühpensionist wäscht hier auf der Donauinsel seine Wäsche und hat sich am benachbarten Baum eine mobile Dusche aufgebaut. Gegen eine eigene Wohnung hat er grundsätzlich nichts, er selbst ist schon für eine Kleinstwohnung angemeldet. Eine passende Unterkunft hat sich nur noch nicht ergeben.

 

Tobi* scheint gut versorgt zu sein, die Bäume schützen sein kleines Reich auch halbwegs gut vor dem Regen. Nur sein Schlafsack wirkt nicht besonders kältetauglich. Gerne nimmt er das Angebot eines dickeren Schlafsackes an. In den kommenden Wochen werden die Streetworker*innen immer wieder hierher kommen, um nach Tobi* zu sehen.

Tobis* Zelt |

Das Gewohnte aufzugeben erfordert immer Überwindung, das kennen wir alle. Selbst für Menschen, die seit vielen Jahren keine Wohnung haben, ist es oft schwer, den entscheidenden Schritt zu setzen und sich dem eigenen Wunsch nach Veränderung zu stellen. Viele Betroffene denken von einem Tag auf den anderen, und ihre prekäre Existenz auf der Straße nötigt ihnen auch diese kurzfristige Perspektive ab – es bleibt ihnen weder Energie noch Aussicht, sich einer längerfristigen Perspektive zu stellen. Die Verantwortung für eine Wohnung zu übernehmen erfordert beispielsweise Vorausdenken für mehr als den nächsten Tag, Einkommen und Planung. Manchmal wacht der Wunsch nach Veränderung auf, wenn die Streetworker*innen Fotos einer möglichen zukünftigen Wohnung herzeigen und die Idee der eigenen Wohnung kann in der Gedankenwelt der obdach- und wohnungslosen Person wieder Fuß fassen. Oft ist jedoch die Verlustangst immer noch zu stark im Hinterkopf verankert: besser nichts mehr aufbauen als womöglich wieder etwas verlieren.

Im Jahr 2017 gab es österreichweit 21.567 obdachlose Menschen (lt. Statistik Austria), das sind rund 3.800 Personen mehr als im Jahr 2008. Akute Wohnungslosigkeit wird mit Obdachlosigkeit gleichgesetzt. Als obdachlos gelten außerdem Menschen, die in Not- oder Nachtquartieren unterkommen. So auch Gregor*, der noch im Laufe des Abends von den Streetworker*innen in ein Notquartier gebracht wird.

Vom Pissoirboden ins Notquartier

In einem öffentlichen WC im 22. Wiener Gemeindebezirk soll eine Person hausen. So lautete zumindest eine Meldung, die über das Kältetelefon hereinkam. Das fahle Licht der Straßenlaternen lässt fast nichts, aber wenigstens die Regenpfützen am Schotterweg erkennen. Dass diese WC Anlage bald abgerissen werden soll, verraten zwei Baufahrzeuge direkt neben dem Gebäude. Susanne und Magdalena machen sich bemerkbar und versuchen die verschiedenen Türen zu öffnen. Verschlossen. Erst als sie hinter das Gebäude gehen, entdecken sie den frei zugänglichen Pissoirbereich und finden eine am Boden liegende Person.

Gregor* liegt mit einer dünnen Decke am kalten Fliesenboden, er identifiziert die beiden Frauen anhand ihrer roten Jacken sofort als “Caritas”. Ob er in ein Notquartier will, fragt Susanne. Ohne lange zu zögern bejaht Gregor* diese Frage und packt seine Sachen zusammen, während Susanne bereits bei einem Notquartier der Volkshilfe im 22. Bezirk einen Schlafplatz für die Nacht erfragt. Gregor* steigt in den Bus ein und der Kältebus setzt sich in Bewegung. Gregor* hat den letzten Schlafplatz im Notquartier erhalten. Morgen wird er sich mit der Sozial- und Rückkehrberatung der Caritas in der Triester Straße in Verbindung setzen, um hoffentlich eine mittelfristige Lösung finden zu können. Nicht alle Menschen sind jedoch so offen und zugänglich wie Gregor*.

Notquartier Nord |

Verständnis haben, wenn jemand nicht will

Grundsätzlich sind die Streetworker*innen natürlich froh, wenn sie auf eine Person treffen, die sich helfen lassen möchte. Schwierig wird es, wenn jemand keine Hilfe annehmen will oder es einfach nicht kann. Das kann dann schon einmal bei Passant*innen Unverständnis, in manchen Fällen sogar Verärgerung auslösen.

Zum Beispiel wird ein Schlaflager gemeldet und drei Tage später befindet sich der betroffene Mensch immer noch dort. “Warum habt ihr nichts gemacht, warum ist der immer noch dort?”, wird den Mitarbeiter*innen der Caritas dann mitunter vorgeworfen. Es kommt eben immer wieder vor, dass Menschen schlicht und einfach keine Hilfe annehmen möchten und/oder können. Das kann unterschiedliche Gründe haben, zum Beispiel kann jemand um keinen Preis seine Autonomie aufgeben, fürchtet sich vor Abhängigkeit von der Institution, mag keine Almosen annehmen oder die Person hat große Schwierigkeiten, irgendjemandem zu vertrauen. Die Streetworker*innen der Caritas bleiben trotzdem dran. Es gilt Vertrauen aufzubauen, eine Beziehung zu etablieren – das braucht mitunter etwas Zeit.

Aufgeben, das gibt es bei den Streetworker*innen nicht. Susanne besuchte drei Jahre lang einen Menschen auf der Donauinsel, der in dieser Zeit in einem WC hauste. Ohne ihn zu sehen. Er war im Gebäude, sie stand außerhalb. Im vierten Jahr besuchte sie ihn im Buschwerk. Nichts nahm er an, keine Zeitung, kein Weihnachtsgeschenk. Nach vier Jahren gab er Susanne seine Jacke zum Waschen mit, wollte diese jedoch schnellstmöglich wieder zurück. Als sie die Jacke gewaschen zurückbrachte, war er offen dafür, Susannes Hilfe anzunehmen. Diesen langen Atem kann man nur haben, wenn man von der Idee ausgeht, dass Obdachlosigkeit immer unfreiwillig ist. Niemand ist freiwillig auf der Straße. Oft gibt es vielleicht noch nicht das richtige Angebot für die spezifische Situation eines Menschen oder es ist vielleicht nicht die passende Zeit dafür. Dranbleiben, bis sich etwas ergibt und den Menschen nicht aufgeben, sondern in seiner*ihrer individuellen Lage anerkennen und respektieren. Die Sozialarbeiter*innen brauchen Geduld.

„Du kannst hier leider nicht bleiben”

Wie unterschiedlich die Ausgangssituationen und daher auch die Leistungen der Sozialarbeiter*innen sein können, erleben wir den ganzen Abend hindurch. Die letzte Meldung dieser Nacht kommt sogar von einem großen Lebensmittelhändler: jemand habe sich einen Verschlag direkt neben dem Parkplatz gebaut – der müsse aber weg. Susanne und Magdalena sind froh, dass die Verantwortlichen im Unternehmen zuerst die Caritas und nicht die Polizei angerufen haben. So haben sie eine Chance zu intervenieren und hoffentlich sogar zu helfen.

Zigaretten: Der klassische Icebreaker

Der Parkplatz scheint auf den ersten Blick menschenleer. Es ist verregnet und dunkel, das Geschäft hat schon seit einigen Stunden geschlossen. Auch dieses Mal kennen wir den genauen Standort des Verschlags nicht, haben aber ein Foto, an dem wir uns orientieren können. Es dauert einige Minuten, doch dann finden wir einen in den Büschen gut versteckten Unterschlupf aus Blechtafeln. Es steckt definitiv viel Arbeit in dieser Behausung. Susanne und Magdalena geben sich zu erkennen. Es kommt ein Mann heraus, der einen erschrockenen Eindruck macht, er hat die Polizei vermutet. Susanne geht auf ihn zu und bietet ihm eine Zigarette an: der klassische Icebreaker. Zigaretten gehören zur Standardausrüstung und werden oft gerne angenommen. Sie erklärt dem Mann, dass er und die andere Person im Verschlag nicht hier am Parkplatz bleiben können. Zwei Tage höchstens. Susanne wird auch mit dem Lebensmittelhändler sprechen. Mehr können sie heute nicht tun. Der Mann versichert, dass sie übermorgen weg sind.

Ein Abend, der in Erinnerung bleibt

Während die Regentropfen weiter auf die Blechtafeln trommeln, kehren wir wieder zur Caritas Gruft retour. Susanne und Magdalena werden die Fälle dokumentieren und ihren Arbeitsabend bald beenden. Bei uns wirkt dieser Abend jedoch noch etwas länger nach. Vor allem die Geschichte von Tobi* schwebt immer noch in unseren Gedanken herum. Mit beiden Beinen im Leben stehend, gut verdienend – und dennoch in die Obdachlosigkeit geschlittert. Es hilft alles nichts: Obdachlosigkeit kann jeden und jede treffen, niemand ist davor gefeit.

Die Streetworker*innen erinnern uns noch einmal daran, dass jede*r Betroffene eine eigene Geschichte mitbringt. Sie begegnen ihren Klient*innen mit Würde und Respekt, so wie es sich doch eigentlich gehört. Nach diesem Abend wollen wir umso mehr darauf achten, dass auch wir in erster Linie den Menschen sehen und die Stigmatisierungen und Vorurteile, die sich womöglich in unser Unterbewusstsein eingeschlichen haben, zum Schweigen bringen.

Dem Kältetelefon nach |

Die Sozialarbeiter*innen der Caritas leisten in unseren Augen eine umsichtige, wertschätzende und aufklärerische Arbeit. Sie helfen nicht nur in akuten Fällen, wie es der Fall von Gregor* gezeigt hat, sondern sind auch andererseits mit langen vertrauensbildenden Maßnahmen beschäftigt. Das braucht einen langen, sehr langen Atem. Ob wir persönlich diese Kraft und Energie aufwenden könnten? Wir wissen es nicht. Wir sind jedenfalls froh, dass es Menschen wie Susanne, Magdalena und viele weitere Streetworker*innen gibt. Sie schaffen Hoffnung, wo viele bereits aufgegeben hätten.

 

Zu den Personen:
Susanne und Magdalena sind Sozialarbeiter*innen bei der Gruft. Sie arbeiten als Streetworker*innen und gehen Anrufen des Kältetelefons nach. Susanne Peter ist die leitende Sozialarbeiterin und hat im Zuge eines Schulprojektes mit 16 Jahren die Gruft mitgegründet.

*Die Namen wurden redaktionell geändert

Wie helfen?

Obdachlosigkeit hat viele Gesichter und viele Gründe – sie ist so verschieden wie die Menschen selbst. Mit diesem Ansatz gehen die Caritas Streetworker*innen jedem Anruf beim Kältetelefon nach.

Mit den sinkenden Temperaturen wird die Hilfe der Sozialarbeiter*innen umso dringlicher. Neben den Notschlafquartieren sind vor allem die Winterpakete mit Schlafsäcken die wichtigsten Angebote für obdachlose Menschen. Ein Winterpaket kostet 50 Euro und besteht aus einem winter- und schneefesten Schlafsack, einer warmen Mahlzeit und der Möglichkeit, sich in der Gruft aufzuwärmen.

Unter folgendem Link können Sie spenden: https://www.gruft.at/spenden/
Kältetelefon der Caritas für Wien: 01-480 45 53
Hier geht es zum Kältetelefon für die weitere Bundesländer.
KälteApp des Fonds Soziales Wien: Mit der KälteApp können Sie Straßensozialarbeiter*nnen von Obdach Wien verständigen, wenn Obdachlose Hilfe benötigen. In Notfällen immer die Rettung rufen!

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