Armut & Sozialstaat

Corona-Krise: „Unsere Psyche ist nicht vorbereitet auf so ein Ereignis“

COVID-19 hat unseren Alltag verändert. Auch nachdem die weltweite Gesundheitskrise vorbei ist, werden die Folgen für viele von uns spürbar sein. Dementsprechend wird bereits jetzt über mögliche wirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Folgen gesprochen. Weniger im Fokus sind Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Der Wiener Landesverband für Psychotherapie will psychische Spätfolgen der Krise mit einer kostenlosen Psychotherapie Helpline 0720 12 00 12 zumindest zu einem Teil auffangen. Und auch der Psychosoziale Dienst Wien hat seine Angebote an die derzeitige Krise angepasst. 

Eine neue Art der Verunsicherung

„Der Virus ist allgegenwärtig um uns herum. Er ist unsichtbar für uns. Wir können ihn nicht anfassen, nicht begreifen. Es ist eine weltweite Krise, der wir nicht entkommen können. Unsere Psyche ist überhaupt nicht vorbereitet auf so ein Ereignis“, sagt Leonore Lerch. Lerch ist Vorsitzende des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie. Sie spricht von einer neuen Art der Verunsicherung, die die derzeitige Situation mit sich bringt. In sehr kurzer Zeit hat sich unser Leben verändert und die Menschen müssen mit unzähligen Herausforderungen umgehen. 

Gründe, wieso auch die psychische Gesundheit darunter leiden könnte, gibt es viele: Die belastende Situation für Menschen in systemrelevanten Berufen, die nicht nur unter Hochdruck arbeiten, sondern auch einem ständigen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Die Einsamkeit von Risikogruppen oder Alleinlebenden. Die Mehrfachbelastungen, die entstehen, wenn man Kinderbetreuung, Home-Office und Home-Schooling zu vereinen versucht. Existenzängste durch den plötzlichen Jobverlust oder starke Gewinneinbußen bei Selbstständigen. Die Angst, dass man selbst oder die Liebsten erkranken, vielleicht sogar sterben könnten. Die Ausgangsbeschränkungen, die Einschränkungen im sozialen Leben, das Fehlen von physischer Nähe zu Freund*innen und Familie. 

Nicht einschätzbare Spätfolgen

Aufgrund dieser vielfachen neuen Herausforderungen hat sich der Wiener Landesverband für Psychotherapie dafür entschieden, eine neue und vor allem kostenlose Psychotherapie Helpline einzurichten. Täglich von 8 bis 22 Uhr stehen parallel zehn Leitungen bereit, besetzt mit Psychotherapeut*innen, die Krisengespräche mit den Anrufer*innen führen. Die Helpline richtet sich dabei an all jene, die psychisch belastet sind. „Unsere Idee war, jetzt rasch Hilfe anzubieten, um mögliche Spätfolgen abzufangen oder zu mildern.“

Die Coronakrise wirkt sehr tief erschütternd, gerade auf unser Sicherheitsgefühl.

Wie sich diese Spätfolgen ausdrücken könnten, ist jedoch noch nicht abschätzbar. „Man hat nicht dieses soziale Leben, das viel ausbalancieren oder für Ablenkung sorgen kann. Man kann sich kaum von sich selbst ablenken im Moment. Die Coronakrise wirkt sehr tief erschütternd, gerade auf unser Sicherheitsgefühl“, weiß Lerch. Panikattacken, Angstzustände, Schlafstörungen, depressive Symptome oder vermehrte Aggressionen seien denkbare Auswirkungen der Krise auf unsere Psyche. Klar ist aber, dass die derzeitige Situation neu ist, entsprechende Erfahrungswerte fehlen. Die Psychotherapie Helpline wird begleitend evaluiert und kann zukünftig mehr Aufschluss geben, wie Menschen auf die Coronakrise reagieren.

Einschränkung der psychosozialen Versorgung

Spätfolgen sowie akute psychische Probleme will auch der Psychosoziale Krisenstab (PSKS) auffangen, der eigens im Zuge der Coronakrise eingerichtet wurde. Als eines der Problemfelder benennt der PSKS die Versorgung von Menschen mit psychischen Leiden und damit einhergehend die Verschlechterung bestehender psychischer Erkrankungen. So gehen mit der Krise Einschränkungen in der Grundversorgung sowie in der medizinischen Versorgung und die Gefährdung von Behandlungskontinuitäten einher. Dementsprechend erfahren die Psychosoziale Dienste (PSD) in Wien einen Anstieg von Anfragen. 

„Wir sehen natürlich, dass einige Patient*innen eine intensivere Betreuung brauchen. Es gibt allerdings auch Patient*innen, die mit der derzeitigen Situation besser klarkommen und kein zusätzliches Angebot benötigen“, erklärt Georg Psota. Er ist Chefarzt des PSD Wien und gleichzeitig Leiter des Krisenstabes. Die Angebote des PSD Wien wurden schnell an die neue Situation angepasst: Mit Ausnahme der Ambulatorien bedeutet dies eine Umstellung auf digital. Beratung und Therapie werden per Telefon oder Videochat durchgeführt. Patient*innen im regelmäßigen Abstand aktiv kontaktiert. 

Wissen, dass es okay ist, nicht okay zu sein

Zudem gewinnt die Online-Kampagne #darüberredenwir durch die derzeitige Krise an neuer Bedeutung. Im Rahmen dieser PSD-Wien-Kampagne werden Social Media Kanäle genutzt, um verschiedene Tipps zu veröffentlichen. Wie kann ich mir neue Tagesstrukturen schaffen? Wie gehe ich mit den Anforderungen eines Home-Office um? Fragen, die beantwortet werden, um die Menschen während der Krise zu unterstützen. „Hier sehen wir den Bedarf, dass viele sich austauschen wollen, sich gegenseitig stärken in der Online-Community und es wichtig für die Menschen ist, zu wissen, dass es okay ist, derzeit nicht okay zu sein“, so Psota weiter. 

Dieses Wissen um die eigene Situation ist bereits ein wichtiger Schritt. Ängste oder Niedergeschlagenheit ernst nehmen. Gefühle nicht ignorieren, sondern wahrnehmen. Und vor allem: sich Unterstützung holen. Dies rät Leonore Lerch abschließend all jenen, die sich psychisch belastet fühlen. Schließlich sei die Psychotherapie Helpline 0720 12 00 12 genau dafür da: „Wir wünschen uns, dass Menschen durch das Krisengespräch ein Gefühl der Entlastung bekommen und dass Sie zumindest während dem Krisengespräch das Gefühl haben, mal wieder durchatmen zu können.“ 

Wenn du Hilfe benötigst:

Die Psychotherapie Helpline des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie bietet unter der Nummer 0720 12 00 12 täglich von 8 bis 22 Uhr kostenfreie Krisengespräche 

Die Psychosozialen Dienste Wien bieten unter der Nummer 01 31330 ebenfalls Hilfe bei psychischen Notfallen und Krisen an. Die Online-Kampagne #darüberredenwir finden Sie auf Facebook und auf der Webseite darueberredenwir.at.

Mehr Anlaufstellen, die in der Coronakrise, Unterstützung bieten, findest du im Artikel „Du brauchst Hilfe während der Corona-Krise?“.

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