Demokratie & Bürgerrechte

„Demokratie ist systemrelevant“ – Tamara Ehs über Krisendemokratie

Im Sommer 2020 erschien das Essay „Krisendemokratie: Sieben Lektionen aus der Coronakrise“ von der Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs im Mandelbaum Verlag. Wie der Titel schon vermuten lässt, handelt es sich hierbei um eine kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen Demokratie in Krisenzeiten – im Spezifischen in Bezug auf die Akutphase der Covid-19-Krise in Österreich. In sieben Lektionen zeigt die Politikwissenschaftlerin die Schwachstellen unserer Demokratie auf und gibt Empfehlungen ab, wie wir überlegter und Demokratie-konformer durch die Krise kämen. 

Das Buch überzeugt nicht nur durch seine Aktualität, denn die Lektionen werden uns über den Herbst und Winter hinaus auch bis nach der Krise begleiten. Die größte Lehre aus dem Buch: Um die Demokratie für Krisenzeiten zu wappnen, besteht auch im Regelzustand Handlungsbedarf. Denn, dass unsere Demokratie Schwachstellen aufweist, wird nach dem Lesen umso deutlicher. Aus diesem Grund möchte ich das Essay jede*m ans Herz legen, weil „Demokratie ist systemrelevant“. Umso mehr freue ich mich, hier mit Tamara Ehs über die Krisendemokratie reden zu können: 

Liebe Tamara, gratuliere zu Deinem Essay, mit dem Du viele wichtige Punkte ansprichst. Doch ein Satz ist mir besonders in Erinnerung geblieben: „Demokratie ist systemrelevant“. Was bedeutet dieser Satz für dich?

Das Wort „systemrelevant“ wurde in der Akutphase im März und April ständig verwendet. Zuerst in Bezug auf Supermarktkassierer*innen, welche deswegen um 18 Uhr jeden Tag beklatscht wurden. Gleichzeitig mussten wir aber beobachten, wie demokratische Freiheiten eingeschränkt wurden und in den Hintergrund traten. Da dachte ich mir: Demokratie scheint nicht systemrelevant zu sein, wenn Wahlen verschoben werden, das Versammlungsrecht eingeschränkt wird oder man keine Unterstützungserklärungen für Volksbegehren mehr sammeln kann. Demokratie ist aber sehr wohl systemrelevant. Und sie wird vor allem in Zeiten der Krise benötigt.

Nach dem Lesen Deines Essays wird einem die Dringlichkeit, unsere Demokratie zu stärken und zu verteidigen, bewusst. Vor allem, damit sie auch in Ausnahmezuständen, wie der Covid-Krise, „gut“ funktioniert. Wie kann sich die Zivilgesellschaft in solch einer Situation für die Demokratie einsetzen? 

Die Zivilgesellschaft lebt vom Austausch, davon gemeinsame Aktionen oder Demonstrationen zu planen. Und in Zeiten wie diesen, liegt es an der Zivilgesellschaft, sich zu artikulieren und Kritik zu üben. Die Zivilgesellschaft schützt die Demokratie und den Rechtsstaat und daher wird sie sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten gebraucht. Aus diesem Grund erläutere ich auch im Essay, wie man vom Versammlungsrecht auf sichere Art und Weise Gebrauch machen kann. Hier gibt es internationale Beispiele aus Deutschland oder Israel, wo man, statt Parolen zu rufen Schilder hochgehalten hat, um Ansteckungen durch Aerosole zu verhindern. 

Du kritisierst in Deinem Essay auch die Desinformationspolitik der Regierung. Siehst du eine Korrelation zwischen der Vorgehensweise der Regierung und den sogenannten Coronaleugner*innen und Fake News-Streuer*innen?

Auch ein halbes Jahr später sehen wir, dass das Regieren mittels Verkündigungs-Pressekonferenzen erfolgt. Allein gestern [Mitte Oktober 2020] wurden wieder in einer Pressekonferenz neue Maßnahmen verkündet, bevor es überhaupt eine Verordnung aus dem Gesundheitsministerium gibt. Es wurden also wieder Einschnitte in unsere Grundrechte artikuliert, ohne dass es dafür noch eine Rechtsgrundlage gab. Das wurde auch in der Anfangszeit der Krise so gehandhabt. Außerdem haben wir erlebt, dass bewusst falsch informiert wurde: Regierungswünsche und Handlungsaufforderungen wurden als geltendes Gesetz kommuniziert. Monate später urteilten Landesverwaltungsgerichte, dass so manches, was ein Minister als geltendes Recht ausgab, durch die Verordnung nicht gedeckt war. Der Verfassungsgerichtshof hob schließlich die Verordnung über die Ausgangsbeschränkungen auf, weil Minister Anschober damit weiter ging, als es ihm das Gesetz erlaubt hätte. Pressekonferenzen haben keine rechtliche Bedeutung. Mit schlampiger Rechtsetzung wurde die Regierung schon recht früh konfrontiert, aber es kam hier nur die Rückmeldung, dass es sich um sogenannte „juristische Spitzfindigkeiten“ handeln würde.  Diese Unbekümmertheit im Umgang mit unseren Grundrechten kritisiere ich. Auch in schlechten Zeiten muss man auf Demokratie und Rechtsstaat achten.

Menschen wurden zudem nicht über die tatsächliche Rechtslage informiert. Das war Teil der Desinformation und solch eine Handlungsweise leistet vielen Verschwörungstheoretiker*innen Vorschub, wenn sie der Überzeugung sind, dass sie über Gesetze angelogen werden und sich dann natürlich fragen, in welchen Punkten sie noch belogen werden. Gerade für die Demokratie ist Vertrauen und Glaubwürdigkeit unerlässlich. Wir haben jedoch gesehen, dass die Regierung gewillt ist, genau dies aufs Spiel zu setzen. 

Vergangenen Freitag [16.10.2020] kam es wieder zu Verschärfungen der Covid-19-Maßnahmen. Die Vorgehensweise der Regierung in der Akutphase prangerst du als autoritär und intransparent an. Im Vergleich zum Frühjahr: Hat die Regierung dazu gelernt oder gibt es immer noch grobe Defizite? Sind wir heute besser auf die Situation vorbereitet?

Die Situation hat sich auf jeden Fall gebessert, da nun auch wieder Kritik laut wird und dadurch das Regierungshandeln einer Korrektur unterzogen wird. Die Oppositionsparteien im Parlament passen besser auf und unterliegen nicht mehr dem „Schulterschluss Team Österreich“. Sie bringen sich bei den neuen Gesetzen kritischer ein. 

Auch die Zivilgesellschaft hat sich aus ihrer Schockstarre befreit und sammelt sich wieder. Sie organisiert sich und reflektiert die letzten Monate. Wir stehen heute an einem anderen Punkt, da wir nun auch die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes haben, der gewisse Verordnungen ganz klar und deutlich als gesetzeswidrig eingestuft hat. Wir sind uns also darüber mehr bewusst, was damals falsch gelaufen ist. Die Regierung hat auch wieder begonnen, auf Begutachtungsverfahren zu setzen und zivilgesellschaftliche Akteure etwas mehr einzubinden. 

Was ich immer noch sehr bedenklich finde, ist, dass viel Kritik aus der rechten und verschwörungstheoretischen Ecke kommt. Es findet sich noch keine breite zivilgesellschaftliche Kritik, die auf Demokratie und Rechtsstaat fußt, und die nicht versucht Gesundheit gegen Demokratie auszuspielen. Es ist beides möglich: Der Schutz der Gesundheit und der Schutz unserer rechtstaatlichen Demokratie. 

Aus aktuellem Anlass zu 100 Jahre Bundesverfassung: Wie sah die Situation vor 100 Jahren aus?

Demokratie und Rechtsstaat können gute Lösungen auch in Krisensituationen generieren. Vor hundert Jahren, als die Verfassung ausgearbeitet wurde, befanden wir uns auch in einer Pandemie. Damals hatte die Spanische Grippe Europa im Griff. Niemand kam damals auf die Idee, in die österreichische Verfassung Notstandsgesetzte oder Ausnahmeparagraphen zu schreiben. Man hat sich explizit dagegen ausgesprochen, Grundrechte einzuschränken. Ich würde mir wünschen, dass wir 100 Jahre später wieder dieses Vertrauen in die Demokratie setzen.

Dein Essay endet mit einer Auflistung demokratischer Wünsche. Im Essay selbst sowie in Deiner Utopie sprichst du oft die Wichtigkeit von Partizipationsmöglichkeiten an und gehst hier im Konkreten auf Bürger*innen-Räte ein.  Wir sind soeben dabei, solch einen Bürger*innen-Rat zu starten, dem Zukunftsrat Demokratie. Für unsere Leser*innen, die mit dem Konzept nicht vertraut sind: Was zeichnet Bürger*innen-Räte aus und welches Potenzial haben sie?

Bürger*innen-Räte können als Arenen dienen, um wieder ins gute Gespräch miteinander zu kommen. Das ist etwas, das uns heute fehlt. Vor allem im Blick auf Social Media: Hier sind die meisten in ihrer eigenen „Blase“ unterwegs, jegliche Diskussion wird hochgeschaukelt und zugespitzt. Wir haben aber keine Möglichkeiten, uns zu unterhalten oder uns zu begegnen. Es ist für eine Demokratie wesensnotwendig, Räume zu schaffen, in denen wir mit unterschiedlichen Menschen und Meinungen zusammenkommen. 

Bürger*innen-Räte bieten den Vorteil, dass sie von ausgebildeten Moderator*innen begleitet werden, die darauf achten, dass alle zu Wort kommen und nicht die lauteste Stimme im Raum zählt. So kann man zu einer informierten Meinung kommen. Sie schaffen Räume, in denen man sogar zu Kompromissen gelangen kann. Kompromisse sind das Wesen der Demokratie, da wir ja alle miteinander auskommen müssen, auch wenn wir nicht dieselben Meinungen haben.  Das ist der zentrale Vorteil. 

 

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Das Buch ist entweder direkt beim Verlag oder in österreichischen Buchhandlungen zu erwerben.

Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs |
Credits: Tamara Ehs

Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs forscht zu den sozialen Fragen von Demokratie und Verfassung und berät Gemeinden, Parteien sowie zivilgesellschaftliche Vereine hinsichtlich Demokratieinnovationen. Im Juli 2020 ist ihr Essay „Krisendemokratie: Sieben Lektionen aus der Coronakrise“ erschienen.

Diesen Artikel teilen

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
Email
Drucken