Respekt & Vielfalt

Die Schmach des Besiegten

Wer in der Nacht vom 13. auf den 14. September das Herren-Tennis-Finale der US OPEN live miterlebt hat, war nicht nur Zeuge eines an Dramatik kaum zu überbietenden Schauspiels. Es hatte eine menschliche Dimension, die die Euphorie über den Sieg von Dominic Thiem noch überstrahlt. Als der letzte Punkt im 5. Satz ihm mit einem 8:6 Tiebreak den Sieg bescherte und er danach auf seinen Freund und Kontrahenten Alexander Zverev zuging, da umarmte ihn dieser und streichelte ihm über seinen Kopf, so als wollte er ihn trösten, und nicht umgekehrt.

In der Zeremonie nach dem Match streuten sich beide Spieler gegenseitig Rosen. Thiem meinte (zurecht): „Dieses Spiel hätte sich zwei Sieger verdient.“ Später fügte er hinzu: “Tennis ist ein grausamer Sport.“

Was wäre gewesen, wenn beide Spieler beim Game-Stand von 6:6 im fünften Satz gesagt hätten: „Wir haben beide unser Bestes gegeben, 5 Sätze lang. Es hat nicht sein wollen, dass einer von uns vorzeitig gewinnt. Wir wollen nun nicht mehr weiterspielen! Wir sind seit unserer Jugend enge Freunde. Keiner von uns will auf Kosten des anderen gewinnen und diesem die Schmach der Niederlage antun! Warum können wir nicht ex-aequo US OPEN-Sieger sein und uns das Preisgeld für den 1. und 2. Platz teilen? Jeder von uns beiden wäre damit mehr als happy.“

Zugegeben: die Schmach einer Niederlage wäre für Thiem ungleich größer gewesen. Er wäre wieder als „big loser“ nach schon drei verlorenen Grand-Slam Finali vom Platz gegangen, und hätte sich psychologisch vielleicht nie mehr davon „erholt“. So schmal ist der Grat zwischen Siege und Niederlage, denn nun prophezeit Zverev, dass Thiem noch „viele“ Grand-Slam Titel holen wird.

Aber darum geht es nicht in diesem Artikel. Ich will hinterfragen, warum es zwingend so sein muss, dass – wie in einem Krieg oder einem Gladiatorenkampf – weitergekämpft werden muss, bis es einen Sieger und einen Besiegten gibt. Muss das wirklich so sein??

Ein anderes Beispiel aus der Leichtathletik: Beim New York Marathon 2004 gab es das knappste Rennen in der Geschichte aller Marathon-Läufe, als der Südafrikander Hendrik Ramaala mit nur 3/10 einer Sekunde hinter Paul Terget aus Kenya das Ziel erreichte, nach 42.195 m kaum vorstellbarer Anstrengung. Auch beim Wien Marthaton 2017 war Rebecca Chesir aus Kenya nur 2 Sekunden langsamer als ihre Landsfrau Nancy Kiprop.

Was wäre gewesen, wenn Terget und Kiprop eine Option wahrgenommen hätten, die es heute nicht gibt, aber – und das ist mein ceterum censeo – hoffentlich bald gibt, dass sie die Hand von Ramaala bzw. Chesir ergriffen hätten, um gemeinsam zeitgleich über die Ziellinie zu laufen? Wer sollte ihnen dies verübeln, nachdem sie jeweils beide über 42 km alles gegeben hätten? Wohlverstanden: Thiem/Zverev oder Terget/Ramaala oder Kiprop/Chesir sollten natürlich auch anders entscheiden können, ein entsprechendes Reglement im Sport würde ihnen aber eine Wahlmöglichkeit eröffnen. 

Alle die in Zukunft so eine Option wahrnehmen würden, können sicher sein, dass es in sehr vielen Sportarten ex-aequo Sieger und Siegerinnen zuhauf gibt, wie wir Österreicher*innen es im alpinen Schisport schon besonders oft erlebt haben, wobei mir kein einziges Mal ein Fall bewusst wäre, dass sich nicht beide über ihren „Sieg“ gefreut hätten.

Die Chronik weiß, dass es (mit Ausnahme der alpinen Kombination) in allen Weltcup-Disziplinen ex-aequo- Siege gegeben hat, bei den Herren 11 Mal, bei den Damen sogar 15 Mal. Zwei Mal gab es bei den Damen sogar einen dreifach ex-aequo Sieg, zuerst beim RTL in Sölden 2002 durch Tina Maze (SLO), Andrine Flammen (NOR) und Nicole Hosp (AUT). Auch 2006 gab es beim Super-G in Hafjell einen 3-fach Sieg durch Lindsey Vonn (USA), Nadia Styger (SUI) und Michaela Dorfmeister (AUT). (Die Vierte in diesem Rennen war übrigens nur 1/100 Sekunde zurück.)

Zwei Läuferinnen (Mikhaela Shiffrin und Petra Vlhova) schafften sogar zwei Mal ex-aequo Siege, davon einen gemeinsam (RTL Maribor 2019). Die anderen waren 2014, als Shiffrin mit Anna Fenninger (AUT) in Sölden und zuletzt im Jänner 2020, als Vlhova in Sestriere mit Federica Brignone (ITA) ebenfalls einen RTL gewann (Shiffrin war nur 1/100 Sekunde zurück). Sogar bei Olympia (Sotschi 2014) gab es in der Abfahrt die ex-aequo-Olympia-Siegerinnen Tina Maze (SLO) und Dominique Gisin (SUI).

Von den ex-aequo Weltcup-Siegen bei den Herren seien ebenfalls einige hervorgehoben: der Super-G in Kvitfell (2012) mit Klaus Kröll (AUT) und Beat Feuz (SUI); die Abfahrt in Bormio (2012) mit Hannes Reichelt (AUT) und Dominik Paris (ITA), wobei Aksel Lund Svindal (NOR) nur 1/100 Sekunde zurücklag; die Abfahrt ebenfalls in Kvitfell (2014) mit Kjetil Jansrud und Georg Streitberger (AUT), und die Abfahrt in Are mit den beiden Österreichern Matthias Mayer und Vincent Kriechmayr.

Auch beim Schispringen gab es österreichische ex-aequo-Siege im Weltcup: Daniela Iraschko gewann in Oslo 2004 (mit Anette Sagen, NOR) und als Iraschko-Stolz 2015 in Ljubno (mit Sara Takanashi, JAP). Gregor Schlierenzauer gewann zwei Mal, 2011 beim Schifliegen in Vikersund (mit Johan Evensen, NOR) und 2013 auf der Großschanze in Oslo (mit Piotr Zyla, POL). 2014 trugen sich in Kuusamo zwei weitere große Namen gemeinsam in die Siegerliste ein: Simon Amman (SUI) und Noriaki Kasai (JAP).

Im Langlauf und in der Alpinen Kombination sind ex-aequo Siege kaum möglich. Im Langlauf-Sprintbewerb der Damen gab es jedoch in Seefeld 2018 einen gemeinsamen Sieg durch eine Schweizerin und eine US-amerikanische Läuferin.

Im Rodeln und Bobfahren gab es ex-aequo-Siege im Weltcup: die Tiroler  Schiestl und Schneider teilten sich einen Sieg 1994 bei einem Rodel-Weltcup im Einzelsitzer; im Zweierbob gab es gemeinsame Siege 1994, 1998 und 2018; im Monobob 2000 in Lausanne bei der Jugend-Olympiade

Bei Winterolympia hat es drei weitere ex-aequo-Olympia-Siege gegeben: 1928 beim 500 m Eisschnelllauf der Herren, 1972 bei den Rodel-Doppelsitzer der Herren und 2002 bei den Eiskunstlauf-Paaren.

Beim Schwimmen gab es gemeinsame Olympia-Siege 1984 (100 m Freistil Damen) und 2000 (50m Freistil Herren). Beim Springreiten sind ex-aequo-Siege ebenfalls ungewöhnlich, 2017 kam dies jedoch zwei Mal vor, in Treffen und in Villach.

Eine besonders große Zahl an ex-aequo-Olympia-Sieger*innen gibt es beim Kunstturnen: bei den Damen gab es im Bodenturnen, Sprung, Schwebebalken und Stufenbarren insgesamt 6 gemeinsame Olympiasiegerinnen; bei den Herren gab es in den Einzeldisziplinen Reck, Sprung, Ringe, Pferd sogar 12 gemeinsame Siege, davon zwei Mal sogar 3-fach Siege (Pferd 1948 und 1988).

Bei Weltcup-Veranstaltungen in ungewöhnlichen Kunstturn-Bereichen gab es 2017 in der Sportakrobatik sogar einen dreifach ex-aequo Weltcup-Sieg durch die Österreicherinnen Florentina Gruber, Victoria Loidl und Melanie Trautenberger und als Teamevent gemeinsam mit Russland. Beim Sportaerobic– Weltcup 2012 in Kufstein siegten Lubi Gazov (AUT) und Anreli Joly (FRA) gemeinsam, und auch bei den Herren gab es 2019 in Paris einen ex-aequo Sieg zwischen einem französischen und einem ägyptischen Athleten.

Diese Zusammenstellung ist sicherlich nicht vollständig, sie gibt aber auch so einen Überblick der gesellschaftlichen Akzeptanz von ex-aequo Siegen in unzähligen Sportarten.

 In der Leichtathletik hingegen sind die Regeln so gestrickt, dass ex-aequo Siege kaum möglich sind (in den Annalen befand sich nur 1 Olympiasieg 1908 im Stabhochsprung der Herren), beim Golf und beim Tennis wollen die Organisatoren nur eine/n Sieger*in sehen. Beim Golf und beim Pferdespringen wird ein Sieger durch ein „Stechen“ (nomen est omen) erzwungen.

Im „Treffpunkt Philosophie“ bestand für Jorge A. Livagra 2016 „die geheimnisvolle Kunst des Siegens“ darin, unsere Ziele zu erreichen, ohne andere als „Trittstufen“ zu benutzen, so wie „die Kunst des Glücklichseins darin besteht, Ziele zu erreichen, die nicht auf Kosten oder dem Unglück anderer begründet sind“. 

Wie steht es nun mit diesen „Trittstufen“ im Sport, bei dem der „Sieg den abschließenden Erfolg in einem Wettkampf darstellt“ (Wikipedia)? Der Wettkampf begründet die Faszination des Sports, für viele auch im Aufbau des eigenen Egos in der Identifikation mit dem/r Sieger*in. Olympioniken müssen zu recht Fairness geloben, dass aber Wettkämpfe nicht immer „fair“ ablaufen, dass ein „crash fesch ist“ (Rainhard Fendrich) für nicht wenige, ist bekannt. Aber auch darum geht aber hier nicht. 

Es geht hier zum einen um die Definition von Ausnahmesituationen, die sinnvolle Grenzen eines Wettbewerbs aufzeigen können, die den Athleten und Athletinnen einen Freiheitsgrad einräumen, wo sie sagen dürfen: „Wir haben einen ehrlichen Wettkampf gefochten. Es ist jetzt genug. Keine/r von uns soll als Verlierer dastehen. Lasst uns beide als Sieger*innen den Wettkampf beenden.“  

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn die Reglements der einzelnen Sportarten grundsätzlich so überarbeitet werden, dass es mehr Sieger geben kann. Dabei kommen jedoch nur wenige Sportarten dafür in Frage: beim Kunstturnen ist dies bereits der Fall, vor allem weil die Regeln dies zulassen, beim Tennis ist es nur im Finale vorstellbar, und analog dazu sollte es z.B. auch in Ausdauersportarten wie z.B. beim Marathon oder bei 50 km Langläufen erwogen werden. Beim Golf oder Springreiten wäre dies zumindest denkbar, beim Fußball nicht, wie bei allen Teamsportarten.

Die Gesellschaft hat aber längst akzeptiert, dass es nicht immer nur einen Sieger geben muss, es darf durchaus auch zwei oder drei Sieger*innen geben. Die Organisatoren der einzelnen Sportarten, das Olympische Komitee, und damit auch die Politik, sind aufgefordert, ihre Wettbewerbsregeln zu überdenken und mehr „Sieger“ zuzulassen.

Diese Forderung ist ganz unabhängig davon, ob Thiem und Zverev oder die erwähnten Marathon-Läufer*innen die Option wahrgenommen hätten, wenn es sie gegeben hätte. Allemal wäre es aber interessant gewesen herauszufinden, wie die Organisatoren reagiert hätten, wenn das Tennismatch so abgebrochen worden wäre, wie ich es hypothetisch in den Raum gestellt habe.

PS: Auch beim Hahnenkammrennen 1978 gab es in der Abfahrt einen ex-aequo Sieg zwischen Sepp Ferstel (D) und Sepp Walcher (AUT). Mein Freund Manfred Schwab hat mich darauf aufmerksam gemacht und auch auf die Tatsache, dass es zwei Mal beim Kitzbühler Tennisturnier zwei Sieger (bzw. Nicht-Sieger) gab. Beide Male war der Spanier Manuel Orantes im Finale. 1971 wurde das Match (zwischen ihm und Clark Graebner) im 4. Satz wegen Dunkelheit abgebrochen, und 1973 wurde das Match (zwischen ihm und Raul Ramirez) wegen Regens nicht ausgetragen.

PPS: Es sei auch ein Hinweis auf die indische Mythology gestattet, als – zugegeben: etwas weit hergeholte, aber dennoch – interessante Parallele zur Freundschaft zwischen Thiem und Zverev: Arjuna, der große Held der Pandavas, verzweifelte und wollte nicht kämpfen, als er vor Beginn der Entscheidungsschlacht von Kurushetra (ca. 1.000 v.Chr.) im gegnerischen Heer seine Lehrer, drei Generationen von Verwandten und andere von ihm geschätzte Menschen erblickte. Erst die philosophischen Unterweisungen „zum Erkennen des Göttlichen“ durch seinen Wagenlenker Krishna (als irdische Inkarnation des Hindu-Gottes Vishnu) machten ihm klar, dass er sich der Schlacht stellen müsse. Er siegte in diesem Krieg, sein Sohn wurde jedoch getötet. Die Zwiegespräche zwischen Arjuna und Krishna bildeten den Hintergrund für die Entstehung der Bhagavad Gita als religiös-philosophisches Lehrgedicht in 18 Kapiteln mit 700 Versen. Dieser „Gesang des Erhabenen“ (er wurde im 2. Jahrhundert n.Chr. in das indische Nationalepos Mahabarata integriert) fand auch im Westen eine große Verbreitung und zählt heute noch zu den meistgelesenen heiligen Büchern Indiens. Darstellungen des verzweifelten Arjuna und der Tröstung durch Krishna sind oft auch in Privatwohnungen anzutreffen.

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