20 Jahre ist es her, dass Martin Haiderer mit drei Studienkolleg*innen der Sozialakademie aus einer Idee einen Verein machte und das Konzept der amerikanischen ,,Foodbanks‘‘, das zu diesem Zeitpunkt etwa 30 Jahre existierte, nach dem Hamburger Vorbild nach Wien brachte. Heute finden sich österreichweit Tafeln in allen Bundesländern, darüber hinaus gibt es einen Dachverband „Die Tafeln“, der Interessen, auch gegenüber der Politik sowie den Austausch zwischen den einzelnen Tafeln koordiniert.
Erfahrungen haben gezeigt, dass es eines engmaschigen Kooperationsnetzwerkes mit Stakeholdern aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bedarf, um die Thematiken Ernährungssicherheit und Lebensmittelverschwendung nachhaltig zum Positiven zu verändern. Gleichzeitig hat sich auch die Europäische Union zu einer wichtigen Stütze entwickelt, die Vernetzung durch die European Food Banks Federation (FEBA) bietet Raum, sich regelmäßig über Chancen und Herausforderungen im großen Tafelnetzwerk mit über 420 Tafelorganisationen auf europäischer Ebene auszutauschen.
Das Bild der Tafeln hat sich schon lange über die Rettung und Weitergabe von Lebensmittel hinausentwickelt. Sie sind ein Ort der Begegnung, aber auch ein Ort, an dem gegen ungerechte Ressourcenverteilung in einer Gesellschaft gearbeitet wird. Weltweit werden jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen der Lebensmittel, die für den menschlichen Verbrauch gedacht sind, trotz Genussfähigkeit weggeworfen. Ein Viertel davon würde reichen, um die 821 Millionen hungernden Menschen ausreichend zu versorgen. Diese Zahlen wirken zu groß, zu mächtig, um sie sich tatsächlich vorstellen zu können. So mächtig, dass man sich selbst ohnmächtig fühlt, an ihnen etwas zu ändern. Es ist jedoch unleugbar, dass der verschwenderische Umgang mit Lebensmitteln als Ressource nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem darstellt und dass jede*r einzelne etwas dagegen tun kann.
Der Bereich zwischen nahrhafter Sättigung und Verhungern ist facettenreich. Es wird zunächst bei der Qualität der Ernährung gespart und bei der Häufigkeit der Mahlzeiten. Begleitet werden diese Vorgänge von Ängsten, die den gesamten Alltag überschatten und sich als psychische Belastung manifestieren. In Österreich sind etwa 6,6% der Bevölkerung von mittlerer oder schwerer Nahrungsunsicherheit betroffen: 483.000 Personen. Erneut eine Zahl, die unser Vorstellungsvermögen gerade in einem so reichen Land wie Österreich herausfordert. Armutsgefährdete Menschen erfahren Ernährung, neben Wohnen und Energie als größte Belastung in ihrem Alltag. Diese wird vor allem prekär, wenn Menschen ihr Obdach verlieren. Der allgemeine Gesundheitszustand von Familien unter der Armutsgrenze ist dreimal schlechter als bei solchen mit hohem Einkommen, der Zugang zu gesunder und ausgewogener Ernährung ist hierbei ein entscheidender Faktor.
Ernährungssicherheit ist ein Faktor von vielen, um ein selbstermächtigtes Handeln von Menschen zu ermöglichen und damit weitere begleitende Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zu unterstützen. Um die Brücke zwischen Überfluss und Bedarf zu schlagen, bedarf es des praktischen Aspekts der Abholung und Lagerung von Lebensmitteln, sowie deren Weiterleitung an Sozialeinrichtungen. Das stellt die Wiener Tafel zunehmend vor strukturelle Herausforderungen. Lager-, Kühl- und Transportmöglichkeiten sind die zentralen Hebel und gleichzeitig die kostenintensivsten. Ein wichtiger Meilenstein für die Wiener Tafel, Österreichs älteste Tafelorganisation und gerade einmal 20 Jahre jung geworden, war die Eröffnung des Tafelhauses, dem ersten Lebensmittelsortier- und Verteilzentrum am Großmarkt Wien im Jahr 2017. Im kommenden Jahr steht eine Expansion am Großmarkt Wien bevor, um zukünftig noch mehr Lebensmittel zu retten.
Die Bilanz der Wiener Tafel ist seit vielen Jahren beeindruckend:
- Mit einem Euro versorgt die Wiener Tafel 10 armutsbetroffene Menschen mit einer Mahlzeit.
- Für jedes CO2 -Äquivalent, das ausgestoßen wird, werden gleichzeitig 27 CO2-Äquivalente eingespart.
- Tafeln stehen für hohes zivilgesellschaftliches Engagement, das die Gesellschaft zusammenhält: 66-100% aller Tätigkeiten in der Wiener Tafel sind ehrenamtlich.
Seit 20 Jahren steht neben dem angewandten, praktischen Tun die bewusstseinsbildende Arbeit ganz oben auf der Agenda der Wiener Tafel. Damit soll ein wertschätzender Umgang mit Lebensmitteln, als auch eines konstruktiver Diskurs über die Zusammenhänge von Armut und Ernährung forciert werden. Dementsprechend breit und vielfältig sind die Projekte der Wiener Tafel: Von der „Suppe mit Sinn“ und der „Marmelade mit Sinn“ über das „Wiener Tafel Sensorik Labor“ für Kinder und Jugendliche bis hin zu den inklusiven Kochworkshops – Aspekte von Inklusion, Bewusstseinsbildung und davon bedingte Änderungen gewisser Denkmuster verbinden sich, um so eine ganzheitliche gesellschaftliche Aufarbeitung der Thematik zu ermöglichen.
Es wird ein Umdenken auf zwei Ebenen gefordert: Die von der Wiener Tafel gesammelten und gespendeten Lebensmittel werden weggeworfen OBWOHL sie genießbar sind. Das macht diese weder zu Müll noch zu Almosen, sondern einfach nur zu einem Zuviel. Dementsprechend erhalten auch die Personen, an welche die Wiener Tafel liefert, weder den Müll, noch die Almosen der Gesellschaft – sie erhalten den Teil der Ressourcen, der ihnen in einer schweren Lebenssituation ein selbstbestimmtes Leben mit einer gesunden und ausgewogenen Ernährung ermöglichen soll.
Wiener Tafel
Wenn auch Sie aktiv werden und die Wiener Tafel unterstützen möchten, so finden Sie weiterführende Informationen unter: www.wienertafel.at
Autor*innen des Artikels: Alexandra Gruber, Nina Starzer
Wiener Tafel – Verein für sozialen Transfer