Demokratie & Bürgerrechte

„Es ist frustrierend nicht wählen zu dürfen!“

Das aktive österreichische Wahlrecht hat sich seit der ersten Republik nur geringfügig geändert, wenn man von den Zeiten des autoritären Ständestaates und dem Anschluss an Deutschland absieht. Damals wie heute dürfen nur österreichische Staatsbürger*innen zur Nationalratswahl schreiten und mitbestimmen. Dennoch – und auch natürlich – unterliegen Menschen, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, der österreichischen Gesetzgebung. Sie zahlen Steuern, bringen sich in die Gesellschaft ein, haben ihren fixen Wohnsitz und ihren Lebensmittelpunkt in Österreich. Bei Nationalratswahlen, Volksabstimmungen und Volksbefragungen dürfen sie nicht mitwirken. Wie fühlt sich das an, ausgeschlossen zu sein?

Giulia, seit 1985 in Österreich, italienische Staatsbürgerin

Seit 34 Jahren wohnt und lebt Giulia in Österreich. Die 1960 in Meran geborene italienische Staatsbürgerin kann sich nicht vorstellen, eine andere Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie ist stolze Italienerin. Seit Österreich außerdem Mitglied der EU ist, hat sie beinahe alle Rechte, die auch eine österreichische Staatsbürgerin hätte. Nur der „Einfluss” auf die Bundespolitik fehlt ihr, obwohl das Interesse “riesengroß” sei, wie sie selbst sagt. Das frustriert. Für Giulia sind daher andere Themen wichtiger, als über Parteien oder eine Koalition zu urteilen.

Egal, wer in den Regierungen dieser letzten 35 Jahre war, ich habe hier sowieso nie wählen dürfen.

Bei Wahlen in Italien gibt Giulia per Post ihre Stimme ab. Dieses Recht hält sie sich aufrecht. Sie wird ebenso das Wahlrecht in Österreich nutzen – auch wenn es nur für die Pass-Egal-Wahl von SOS Mitmensch ist. Als italienische Staatsbürgerin hat sie das Recht, bei dieser bundesweiten, symbolischen Wahl teilzunehmen. Aber nur bei dieser.

Marilen, seit den späten 1990er Jahren in Österreich, deutsche Staatsbürgerin

Im zarten Volksschulalter kam Marilen mit ihrer Familie nach Österreich. Die deutsche Staatsbürgerin, geboren 1991, hat Pädagogik studiert und arbeitet als Sozialpädagogin in Graz. Kurz nach Erreichen der Volljährigkeit hat sie überlegt, die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Diesen Plan verwarf sie aber wieder. Zum einen war ihr die Beantragung als Studentin zu teuer, außerdem wäre für sie als EU-Bürgerin das Wahlrecht der einzige Vorteil gewesen. Der deutsche Pass ist international gut gestellt, zusätzlich sieht sie einen EU-Austritt Österreichs als kein Ding der Unmöglichkeit.

Allein die mehr oder minder ernsthaften Diskussionen über einen EU-Austritt sind für mich Grund genug, meinen deutschen Pass zu behalten.

Marilen hat sich nie besonders als politischer Mensch gesehen. Erst in den vergangenen Jahren mischte sie sich häufiger in politische Diskussionen ein. Vor allem wenn es um menschenverachtende, demokratiefeindliche oder faktisch falsche Aussagen geht, fällt es ihr schwer, sich herauszuhalten. Sie ordnet sich keiner festen politischen Richtung zu und könnte auch nicht definitiv sagen, welche Partei sie wählen würde. Allerdings fühlt es sich nicht besonders toll an, keinen Beitrag an der Bundespolitik leisten zu können. Schließlich betreffen alle Entscheidungen, die die österreichische Regierung fällt, Marilen genauso.
Deutschland hat mit ihrer Lebensrealtität sehr wenig zu tun. Sie wählt daher in ihrem Geburtsland nicht und wüsste auch nicht wen und warum – auch ob sie überhaupt noch dürfte, ist ihr nicht klar. Dort zu wählen, wo man lebt, gewisse Mindestjahre mit Hauptwohnsitz in Österreich als Bedingung: Dies wäre ein Vorschlag für ein verbessertes Wahlrecht. Marilen hält es aber für eher unwahrscheinlich, dass eine solche gravierende Änderung in den nächsten Jahren realisiert wird. Dazu schätzt sie den Widerstand zu hoch ein.

Sebastian, geboren 1997 in Österreich, polnischer Staatsbürger

Sebastian kam 1997 in Wien als polnischer Staatsbürger zur Welt. Seine Eltern verlegten zuvor aus beruflichen Gründen ihren Lebensmittelpunkt von Polen nach Österreich. Der HTL-Absolvent ist innenpolitisch sehr interessiert, sieht sich in Wahlkampfzeiten viele Diskussionen an und seiner Meinung nach, kenne er sich in der Innenpolitik besser aus als viele österreichische Staatsbürger*innen. Die polnische Innenpolitik kennt er dagegen nur oberflächlich. Warum auch, wenn er seit seiner Geburt in Österreich lebt. 

Über die polnische Innenpolitik kenne ich mich nur oberflächlich aus. Da ich in Österreich wohne, interessiert mich hier die Innenpolitik.

Es stört ihn, dass er an bundesweiten Wahlen nicht zur Wahlurne schreiten darf. Die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben, daran hat er bereits gedacht. Jedoch will er seine polnischen Wurzeln nicht abgeben.
Sebastians Vorschlag für ein verbessertes Wahlrecht: “Wenn man seit einigen Jahren in Österreich wohnt, bzw. man hier geboren und aufgewachsen ist, die Ausbildung abgeschlossen hat, arbeitet und Steuern zahlt, dann würde ich dieser Person erlauben in diesem Land wählen zu dürfen.” Er wird auf alle Fälle bei der Pass-Egal-Wahl teilnehmen.

Rebekka, seit 2009 in Österreich, deutsche Staatsbürgerin

Rebekka ist 2009 der Liebe wegen nach Österreich gekommen und aus selbigen Grund – weiters auch aus beruflichen Gründen – geblieben. Die Sozialpädagogin will die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen. Als Hauptgrund bezeichnet sie das Wahlrecht. Sie selbst bindet ein Zuhause nicht an einen Pass, sie würde sich also nicht schwer tun, die deutsche Staatsbürgerschaft abzugeben. Bislang scheiterte eine Beantragung an den finanziellen Kosten.

Ich habe hier meinen Lebensmittelpunkt und alles was hier innenpolitisch passiert beinflusst auch mehr oder weniger mein Leben.

Rebekka hat sich während der Bundespräsidentenwahl 2016 selbst aktiv als Unterstützerin engagiert. Obwohl sie bei dieser Wahl ebenso nicht stimmberechtigt war, verteilte sie informative Flyer an die Wiener Bevölkerung. Gerade als Wienerin findet sie es frustrierend, auf Bezirksebene zwar wählen zu dürfen, aber nicht bundesweit mitgestalten zu können. Rebekka setzt sich vor allem mit Klein-Parteien auseinander, gibt aber zu, dass sie bei einem umfassenderen Wahlrecht vielleicht strategischer wählen würde.

Es ist mitunter frustrierend und ich würde mir schon eine andere Regelung wünschen.

Sie würde sich das aktive Wahlrecht natürlich anders wünschen. Dieses sollte ihrer Meinung nach nicht an die Staatsbürgerschaft, sondern an andere Bedingungen geknüpft sein. Beispielsweise an die Aufenthaltsdauer (mindestens fünf Jahre) und an die Aufgabe des Wahlrechtes im Heimatland.
Rebekka wird am 24. September 2019 bereits zum vierten Mal an der Pass-Egal-Wahl teilnehmen und ihre Stimme abgeben. Und hoffentlich irgendwann im amtlichen Wahllokal zur Urne schreiten.

Offenlegung

Die in dieser Reportage erwähnten Personen sind vier einzelne Personen von mehr als 1,1 Millionen Menschen in Österreich, die das aktive Wahlrecht zur Nationalratswahl nicht ausüben dürfen. Sie haben sich bereit erklärt, über ihr Empfinden und ihre Gefühlslage zu sprechen.

Du darfst ebenso nicht zur Wahlurne schreiten? Schreibe uns dein Kommentar an redaktion@derdiedasrespekt.at.

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