Demokratie & Bürgerrechte

Gemeinwohl-Ökonomie: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand!“

Die Gemeinwohl-Ökonomie setzt sich für ein anderes Wirtschaftssystem ein. Im Gespräch mit Lisa Muhr, Botschafterin der Gemeinwohl-Ökonomie, über überholte Wirtschaftsmodelle, Wachstumsstreben und nachhaltiges und solidarisches Wirtschaften.

Lisa, du bist Botschafterin der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Was macht man als Botschafterin der GWÖ?

Die Idee verbreiten, überall darüber sprechen. In allem was man tut, die Werte, die Haltung der GWÖ mitnehmen. Sowohl im täglichen beruflichen Tun, als auch im privaten Tun. Mich hat die GWÖ einverleibt, ich bringe das überall mit.

Für was steht die GWÖ?

Die GWÖ steht für ein anderes, Werte- basiertes Wirtschaftssystem als Systemalternative zum vorhandenen kapitalistischen Prinzip. Die Wirtschaft ist vom Menschen gemacht, wir können die Wirtschaft auch ändern. Wir stehen, meiner Meinung nach, ziemlich mit dem Rücken an der Wand und wir sehen, dass das neoklassische Modell nicht mehr funktioniert. Wir schlagen schon seit zehn Jahren eine andere Art des Wirtschaftssystems vor. Und zwar ein marktwirtschaftliches Prinzip, das Handel betreibt, aber ethische Werte berücksichtigt, die wir zur Grundbasis in der Wirtschaft machen wollen. Das ist im Grunde GWÖ. Es geht nicht nur um Zahlen, Gewinn, Wachstum, Umsätze. Es geht darum, vordergründig Wirtschaft so anzulegen, dass sie niemandem schadet, weder der Umwelt, weder den Menschen, noch dem Umfeld der unternehmerischen Tätigkeit.

Ist die freie Marktwirtschaft für die GWÖ hinderlich?

Grundsätzlich nicht. Aber der Punkt ist: Was ist wirklich frei? Ist die freie Marktwirtschaft, wie wir sie jetzt haben, tatsächlich frei und ist sie für jede*n zugänglich oder gibt es riesengroße Unterschiede, die die einen unendlich bevorteilen und andere katastrophal benachteiligen. Das Gap zwischen Profiteuren und Armen wird nachgewiesenermaßen immer größer. Wenn wir sagen: Der freie Markt regelt mit unsichtbarer Hand alles von selbst, dann hinterfrage ich kritisch, ob dieses Prinzip in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Klimakrise nicht längst überholt ist? Der Markt ist eine Plattform, wo Menschen miteinander handeln und wo sich, wenn es keine Regeln gibt, der stärkere durchsetzt. Und da sagen wir: Ja, der Markt soll in dem Sinn frei sein, dass jede*r Zugang dazu hat, aber es muss jede*r die gleichen Chancen haben, am Marktgeschehen teilzuhaben. Dafür braucht es ethische Spielregeln, in denen wir uns dann frei bewegen können.

Wie wichtig ist die wirtschaftliche Moral für die GWÖ? Gibt es moralische Richtlinien?

Am Thema Gewinn kann man dies gut darstellen. Natürlich ist es gut und wichtig, dass ein Unternehmen Gewinn macht. Wir wollen ja auch resilient sein, Rücklagen für Unvorhergesehenes bilden, in Innovationen investieren, uns weiterentwickeln. Aber die Frage ist: Wie werden Gewinne erwirtschaftet, wie hoch sind diese Gewinne und was machen wir mit diesen Gewinnen? Hier geht es ganz stark um die Zieldefinition, nämlich Geld als Mittel und nicht als Selbstzweck. Gewinne, die wir auf Kosten von sozialer Ausbeutung und Umweltschädigung machen, sind eine Schande und sollten verpönt sein! Wir haben als Menschen Vorstellungen davon, wie man sich benimmt und wie man sich nicht benimmt. Als Unternehmen muss ich mich genauso benehmen, sonst kollabiert das System. Im jetzigen kapitalistischen System macht der Stärkere das Rennen: Je mehr Ellbogenprinzip, desto höher die Renditen, desto gefeierter die Manager. Beispiel: Effizienzsteigerung. Effizienzsteigerung heißt meistens, dass es zu Lasten von Menschen oder Umwelt geht. Gleicher Umsatz, höherer Gewinn, klingt gut. Aber dahinter werden tausende Menschen entlassen. Das ist nicht gemeinwohlförderlich. Das fördert Burnout, das fördert Krankenstände. Die Unternehmen putzen sich ab und prahlen mit ihren Gewinnen, während die wahren Kosten der Staat bzw. die Gesellschaft trägt. Diese versteckten Kosten entlang der gesamten globalen Produktionskette sollten obligat eingepreist werden müssen. Dann würden fair produzierte Güter billiger werden als unfair produzierte. In der GWÖ sollen Werte wie ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität, Menschenwürde und Mitbestimmung zum Leitbild des eigenen Wirtschaften werden.

Es ist Wirtschaft, die auf Werten aufgebaut ist, was ist daran schlecht? Und warum soll das nicht funktionieren?

Diese Aspekte fließen in die Gemeinwohlbilanz, auf die wir noch zu sprechen kommen, bei Unternehmen ein. Kann aber die Berücksichtigung vieler Aspekte auf das Gesamtsystem übertragen werden, wenn für die Bewertung des wirtschaftlichen Erfolgs auf höchster Ebene immer nur das BIP herangezogen wird?

Das ist meiner Meinung nach obligat, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Wir sind im Moment in dem kapitalistischen System verankert und es ist wahnsinnig schwer, dieses zu verändern. Weil es von den Profiteuren null Interesse gibt, dieses System zu ändern. Wir sind mittlerweile eine Bewegung, die in vielen Ländern tätig ist. Trotzdem sind wir ein Mini-Anteil an der Gesamtmenge der Wirtschaftstreibenden. Eine Systemänderung geht auch nicht von heute auf morgen. Bevor Greta Thunberg auf der Bildfläche erschien, war ich schon etwas frustriert. Wir wissen, was schiefläuft und trotzdem passiert gar nichts. Im Gegenteil: Die Mächtigen wie Trump und Co. versuchen noch einmal eins draufzusetzen und nochmal mehr von dem System zu profitieren. Aber jetzt hat sich plötzlich sehr viel getan. Es ist in der Gesellschaft angekommen, dass wir so, wie wir bisher gelebt haben, nicht weitermachen können. Natürlich brauchen wir neue gesetzliche Regelungen und die Politik dazu. Wir können nicht immer nur auf die Konsument*innen verweisen, es braucht alle Akteur*innen. Die Politik ist am Zug, neue gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine überlebensfähige Zukunft ermöglichen. Die GWÖ will kein Bestrafungssystem für Übeltäter, sondern ein Anreizsystem schaffen, das nachhaltiges, gemeinwohlorientiertes Wirtschaften attraktiv macht. Wir können mit dem Thema Geld so viele Anreize schaffen, um Unternehmen zu animieren, gemeinwohlorientierter zu arbeiten. Die Gemeinwohlbilanz ist hier ein wunderbares und wichtiges Werkzeug, weil das BIP nichts darüber aussagt, ob wir gut leben können. Wenn Naturkatastrophen oder Kriege eintreten, steigt das BIP, weil die Wirtschaft boomt. Aber das sagt nichts darüber aus, ob wir eine zufriedene, eine in sich ruhende erfüllte Gesellschaft haben. Wir haben es noch nicht geschafft das BIP vom Thron zu stoßen, obwohl es so viele alternative Indikatoren und Vorschläge gibt. RIP BIP.

Kann es die GWÖ von unten schaffen? Von oben herab wird sich am Wirtschafssystem wohl nichts ändern.

Das ist wie mit dem Klimathema. Gesellschaft hat sich noch nie schnell verändert. Gesellschaft ändert sich dann, wenn etwas passiert. Ich nenne es systemische Verdichtungsspirale. Probleme in einem System werden immer größer und verdichten sich, bis sie ganz dicht, groß und massiv sind. Dann explodieren sie. Dann wird das System wieder frei. Zeit für Veränderung. Aber das Explodieren bedeutet meist Katastrophen oder Kriege, die uns zum Umdenken bringen. Oder Revolutionen. Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie die Situation, das System nicht mehr mittragen. Das sieht man bei Fridays For Future. Wir müssen den Druck noch viel mehr aufbauen und auf die Straßen gehen. Es liegt an jedem und jeder einzelnen von uns, Teil dieser Veränderung zu sein.

Ist der Mensch in Österreich zu bequem geworden?

Ganz sicher. Es ist ja auch nicht nötig, dass wir uns damit beschäftigen. Wir müssen uns im Fernsehen nicht die Nachrichten anschauen, wir können Serien und Daily Soaps anschauen. Wir können bei Obdachlosen ganz bequem wegsehen, wir können unentdeckt XXL Pakete im Supermarkt kaufen und dann die Hälfte wegschmeissen, weil wir die Mengen eh nicht essen können. Es zwingt uns niemand, uns mit den heiklen Themen der Welt auseinanderzusetzen. Wir leben in der Fülle und realisieren nicht, dass unsere Fülle auf Kosten der anderen Seite der Welt geht. Wir versuchen aufzuzeigen, wie eng alle Zusammenhänge sind. Es ist nicht egal, was du im Geschäft kaufst. Jede Kaufentscheidung ist eine Wahl. Das müssen wir mal realisieren, deswegen ist es wichtig die Themen öffentlich zu machen. Deswegen bin ich der FFF-Bewegung wahnsinnig dankbar, weil sie es geschafft hat, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu wecken. Die Menschen verlangen, dass die Politik sich verändert und soziale und ökologische Kriterien in ihre Handlungen miteinbezieht. Wenn der Druck groß genug ist, wird sich die Politik ändern müssen. Mittlerweile glaube ich, dass wir in dieser Wandelbewegung wieder einen positiven Drive erleben. Ich bin überzeugt davon, dass wir es schaffen können, wenn wir weiter dran bleiben und der Druck noch größer wird.

Kund*innen wollen Transparenz und Glaubwürdigkeit.

Ein ständig laufender Prozess also, um Wirtschaftstreibende von der GWÖ zu überzeugen. Tun sich große Betriebe schwerer, die Gemeinwohl-Ökonomie umzusetzen als kleine Betriebe?

Das könnte man so sehen, muss aber nicht so sein. Vor 10 Jahren sind viele verschiedene Unternehmen zusammengesessen. Und jeder hat bei der Matrix als Basis zur Erstellung der Gemeinwohlbilanz in einem anderen Bereich gesagt: Da kann ich nicht mit. Der Fotograf beispielsweise muss mit Chemikalien arbeiten. Natürlich, das was im Arbeitsbuch zur Bilanzerstellung beispielhaft dargestellt ist, ist das höchste Ziel. Das höchste Ziel in allen Bereichen zu erreichen, ist aber nicht Sinn und Zweck, meist auch gar nicht machbar oder manchmal auch gar nicht gewünscht. Das ist ok. Der Prozess der Annäherung und Beschäftigung mit den Themen ist das wesentliche. Die Bilanzerstellung ist ein wertvoller Prozess, der wie ein Spiegel vor Augen hält, was du tust als Unternehmen und wo du Potential hast zu agieren. Man geht durch alle Abteilungen, Tätigkeiten und Stakeholder*innen-Gruppen und überlegt sich auf sozialer, ökologischer und partizipativer Seite, was tun wir schon und wo haben wir noch Verbesserungspotential. Das ist einem oft gar nicht so bewusst. Das ist eine wertvolle Erkenntnis für Unternehmen, die für Innovationen und zukünftige Strategien wichtige Anhaltspunkte geben kann. Ich sehe die Gemeinwohlbilanz als ganzheitliches Werkzeug um sich selbst zu entwickeln, aber auch als geniales Medium in der Kommunikation. Kund*innen wollen Transparenz und Glaubwürdigkeit. Der erforderliche Bericht zur Gemeinwohlbilanz ist eine der umfangreichsten und ganzheitlichsten Formen von Nachhaltigkeitsberichtserstattung, die ich kenne.

Die Transparenzforderung als passendes Mittel der GWÖ sozusagen.

Durch die Digitalisierung ist es uns möglich, sehr schnell miteinander zu kommunizieren, zu bewerten, zu verlangen, zu fordern, zu kritisieren. Unternehmen, die sich dem nicht stellen, werden à la longue nicht überleben können. Die Gemeinwohlbilanz ist ein perfektes Werkzeug für die Kommunikation nach außen.

Die Gemeinwohlbilanz als Index für das wirtschaftliche Handeln?

Eigentlich ist es ein Index für die unternehmerische Tätigkeit. Durch die Gemeinwohlbilanz kann ganz viel auf verschiedenen Ebenen passieren. Das Problem im Moment: Der unternehmerische Vorteil einer Gemeinwohlbilanz ist im Moment einfach noch zu wenig. Das Anreizsystem, das wir von der Politik fordern, ist nicht vorhanden und Unternehmen schmücken sich immer gern mit Siegeln und Zertifikaten. Wir haben in der GWÖ jedoch noch kein richtiges Zertifikat dafür, wir bräuchten eine Art Stempel, ein Branding, das uns als Unternehmen verliehen wird. Hier sind uns die Benefit Corporations mit ihrer „Certified B Corporation“ Zertifizerung ein wenig voraus. Hier sehe ich noch Verbesserungspotential für die GWÖ.

Der Vorwurf: „Bist du gegen Kapitalismus, bist du für Kommunismus“ ist absurd.

Einige kritische Wortmeldungen behaupten, dass die GWÖ wissenschaftlich nicht ausreichend fundiert ist. Wie entgegnet dem die GWÖ?

Was heißt wissenschaftlich nicht ausreichend fundiert? Jede Wissenschaft braucht Futter und Vordenker*innen. Sie lebt von der ständigen Hinterfragung, von Hypothesen, von empirischen Untersuchungen und von Ergebnissen, die die Hypothesen widerlegen oder bestätigen. Das neoklassische Modell, das heute für sich beansprucht, die einzige Wahrheit zu sein, und von seinen Profiteur*innen oftmals mit Totschlagrhetorik ohne tiefgehende Begründungen verteidigt wird – das habe ich selbst bei Podiumsdiskussionen erlebt – ist nicht zeitlos und unendlich gültig auf diesem Planeten. Die Ökonomie ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Sozialwissenschaft. Ökonomie ist ein lebendiges und komplexes System, das nicht nur mit Zahlen und Modellen darstellbar ist, sondern von vielen unberechenbaren Faktoren wie Menschen, Klima, Globalisierung, Digitalisierung, Rückkopplungen, Zufriedenheit, Wohlstand uvm. geprägt wird. Im Angesicht des Wettlaufs mit dem Klimawandel und Peak Everything wird es allerhöchste Zeit, die vielen Systemalternativen nicht als Angriff zu sehen, sondern sich ernsthaft mit den Vorschlägen auseinander zu setzen und gemeinsam ein neues System zu entwickeln, das uns innerhalb der planetarischen und sozialen Grenzen auf diesem Planeten überleben lässt. Es geht um nichts weniger als um die Frage: Wird es die Menschheit schaffen, auf diesem Planeten zu überleben oder nicht? Es gibt so eine große Bandbreite von alternativen Vorschlägen: Gemeinwohl Ökonomie, Solidarische Ökonomie, Postwachstumökonomie, Share Economy, Kreislaufwirtschaft, Commons, Transition Towns, Donut Ökonomie, alle Aspekte der Pluralen Ökonomie. Der Vorwurf: „Bist du gegen Kapitalismus, bist du für Kommunismus“ ist absurd. Alle diese Systemalternativen beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Problemen der Verteilung, mit dem Thema Wachstum, mit dem Thema Produktions- und Wegwerfgesellschaft, Arbeit von morgen, Geld und Finanzen, regional und global und vielem mehr. Wir haben gar keine andere Wahl, als uns ernsthaft mit diesen Ideen auseinander zu setzen. Denn wenn wir es nicht tun, werden unser Kinder und Kindeskinder auf diesem Planeten ein sehr ungemütliches Leben fristen müssen, wenn sie überhaupt noch überleben können. 

In den 1970er Jahren hat der Club of Rome die Grenzen des Wachstums aufgezeigt. Widerspricht sich Wachstum mit der Idee der GWÖ?

Warum müssen wir unbedingt wachsen? Ich verstehe es aus der heutigen Sicht, denn das System verlangt es von uns. Wir haben jedes Jahr Indexerhöhungen, bei den Mieten, bei den Gehältern. Na klar müssen wir wachsen, zumindest indexerhöht. Wir sind gezwungen dazu. Nur, es kann auch ein System geben, wo das nicht mehr wichtig ist. Subsistenz, Suffizienz, Regionalökonomie, Kreislaufwirtschaft statt linearer Produktions- und Wegwerfwirtschaft, Verlängerung der Nutzungsdauer, Kombination von Fremd- und Selbstversorgung, Verkürzung der Arbeitszeit, weniger Abhängigkeit von monetärem Einkommen udgl. sind ein paar Begriffe dazu. Eine neue Wirtschaft ist möglich, Arbeitsplätze gehen dabei nicht verloren. Es kann neue Berufsbilder wie Reparierer*innen, Renovierer*innen, Instandhalter*innen, Provider*innen udgl. geben. Das Wachstum alleine ist nicht der Motor, um Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist ein Glaubenssatz, den man uns einzureden versucht. In der GWÖ wird das Wachsen aber grundsätzlich nicht verboten. Wir können nach unseren eigenen Bedürfnissen wachsen, wenn wir damit nicht andere ausbeuten oder anderen schaden. Jedes Unternehmen braucht seine gesunde ökonomische Größe, bis dahin muss es wachsen. Die Frage ist, was dann passiert. Müssen wir weiter wachsen , weil der Shareholdervalue und die Banken das von uns verlangen oder wir den Mitbewerb mit unserer Marktgröße verdrängen wollen oder bleiben wir auf unserer gesunden ökonomischen Größe resilient. Darum geht’s.

Ein anderer Zugang zum Wachstum sozusagen.

Wir sind geprägt von hunderten Jahren Kapitalismus. Wir sind darin geboren, kennen nichts anderes und haben offenbar nicht den Mut anders zu denken

Wir sind Pionier*innen. Das Wesen von Pionier*innen ist, dass sie ihrer Zeit immer voraus sind.

Besteht nicht die Gefahr in der globalisierten Wirtschaftswelt, dass wir, wenn wir beispielsweise die GWÖ einführen und andere Länder nicht mitspielen, wirtschaftlich untergehen?

Wir müssen ja nicht untergehen deshalb. Wir wirtschaften trotzdem, haben Einnahmen und Ausgaben, erledigen Aufträge, schaffen Arbeitsplätze. Wir bleiben ja Wirtschaft, wir wirtschaften nur in einem gewissen Rahmen, der nicht ins Grenzenlose ausufert. Weil alles was ins Grenzenlose ausufert, schadet irgendwem. Wir wirtschaften in gesunden, erträglichen Grenzen und in dem Rahmen kann es uns nur besser gehen, weil es die großen Ungleichgewichte nicht mehr geben kann. Und in dem Rahmen können wir großartig wirtschaften. Warum sollen wir da untergehen? Es ist Wirtschaft, die auf Werten aufgebaut ist, was ist daran schlecht? Und warum soll das nicht funktionieren?

Die GWÖ wird wohl auch kein starres Konstrukt sein, sondern wird sich dynamisch an Gegebenheiten anpassen.

Natürlich. Die GWÖ ist ein sich ständig entwickelnder Prozess. Da sind ganz viele Menschen beteiligt, die, meistens ehrenamtlich, daran arbeiten, dass sich die GWÖ permanent weiterentwickelt. Es ist eine Einladung an alle Menschen, offen daran mitzuarbeiten. Jeder Input wird gehört, wird bedacht und verarbeitet. Christian Felber hat die Idee geboren, ist die Quelle der GWÖ, aber es sind ja ganz viele Menschen beteiligt, die das in ihrem täglichen Tun kommunizieren und verbreiten. Ein offener Prozess, der permanent wach ist und versucht, die Bedürfnisse der Menschen und des Planeten im wirtschaftlichen Tun zu implementieren.

Die GWÖ ist also kein Nischenmodell, sondern kann auf die breite Masse angewendet werden?

Das ist ja das Geniale daran. Die GWÖ ist für jedermann und jederfrau da. Durch die Gemeinwohlbilanz wenden wir uns sehr stark an Unternehmen. Wir arbeiten aber auch mit Gemeinden zusammen, sind mit Schulen und Hochschulen vernetzt. Die GWÖ wird gelehrt und unterrichtet, macht auch Vorschläge im Bildungswesen, damit die moralischen Werte im jungen Menschen aufgehen können und nicht vom Leistungsdruck getötet werden. Kinder sind begeisterungsfähig und offen für alles. Diese Offenheit könnten wir sehr viel stärker fördern in den Schulen. Das schafft Menschlichkeit, Solidarität und Naturverbundenheit.
Wir sind Pionier*innen. Das Wesen von Pionier*innen ist, dass sie ihrer Zeit immer voraus sind. Dass sie Ideen haben, die wichtig sind, aber von vielen Menschen als völlig irre angesehen werden und dass sie es verdammt schwer haben, im vorhandenen System zu überleben. Pionier*innen stehen ganz vorne, gehen mit der Machete durch den Dschungel. Wir versuchen vorzuleben und zu zeigen, dass es auch anders gehen kann.

Mit der Machete durch den Dschungel bereitet man zumindest einen Weg vor.

Es ist ein anstrengender, ein kämpferischer Weg. Aber ein toller Weg. Man sieht die Begeisterung von Menschen, die die Ideen unterstützen und mitgehen. Das ist ein unschätzbarer Wert. Irgendwann sind wir eine kritische Masse, die so laut ist, dass sie gehört wird. Meine Hoffnung ist, im Angesicht des Klimawandels, dass wir es schaffen, das Schiff des Kapitalismus vom Kurs umzuleiten, um in ruhigere Gewässer zu kommen. Damit es uns nicht komplett aufblattelt.

Zur Person:

Lisa Muhr ist Botschafterin der Gemeinwohl-Ökonomie, Vorstandsmitglied im Gründungsverein der Gemeinwohl-Ökonomie und wissenschaftliche Mitarbeiterin für Green Economy an der Fachhochschule Wr. Neustadt, Campus Wieselburg.

Weitere Informationen zur Gemeinwohl-Ökonomie

Als Gemeinwohl-Ökonomie werden seit den 1990er Jahren verschiedene Konzepte und alternative Wirtschaftsmodelle bezeichnet, die eine Orientierung der Wirtschaft am Gemeinwohl, Kooperation und Gemeinwesen in den Vordergrund stellen. 2010 gründete Christian Felber in Wien den „Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie“ für ein Wirtschaften, das auf Kooperation statt Konkurrenz setzt.

Die Gemeinwohlbilanz ist ein Index für die unternehmerische Tätigkeit und basiert auf einer Punktematrix, die unterschiedliche Handlungen und Tätigkeiten des Unternehmens mit Punkten bewertet. Maximal können 1.000 Gemeinwohlpunkte erreicht werden. Beispielsweise erreicht das Unternehmen Sonnentor aus dem Waldviertel eine Punktezahl von 725. Weitere Informationen zur Gemeinwohlbilanz finden sich auf ecogood.org.

Vortrag und Diskussion über die Gemeinwohl-Ökonomie – zu finden auf Youtube

BuchtippThis Is Not Economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaften, von Christian Felber, erschienen 2019 im Paul Zsolnay Verlag.

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