Demokratie & Bürgerrechte

In guter Verfassung?

Jetzt heißt es, dass Menschen, die „in guter Verfassung“ sind, gut durch die Krisenzeit kommen können. Dieser Ausdruck bezieht sich sowohl auf das körperliche als auch auf das psychische Befinden von Menschen. Wer „in guter Verfassung“ ist, kann jetzt nicht nur für sich selbst sorgen, sondern auch für andere da sein, vor allem in Berufen, die jetzt ganz besonders gefordert sind, in Familien- und Freundeskreisen. Wer „in guter Verfassung“ ist, kann vielleicht auch besser mit Sorgen um den Arbeitsplatz oder das Unternehmen umgehen.

Aber ist auch der Staat jetzt „in guter Verfassung“? So klar diese Frage scheint, so schwierig ist sie zu beantworten. Zuerst einmal sollten wir aufpassen, dass wir den Aufbau oder Zustand eines Staates (oder einer anderen Institution) nicht mit einem Organismus vergleichen. Ein solcher Vergleich ist schon oft in Politik und Geschichte passiert und passiert noch immer. Er präsentiert ein Bild, das viele gut nachvollziehen können. Aber zugleich kann damit vermittelt werden, dass die Regeln für unser Zusammenleben etwas sind, das „natürlich“ ist und daher gar nicht anders sein kann. In ähnlicher Weise kann dann gesagt werden, dass auch der Staat eine „natürliche Gemeinschaft“ ist, der nur gewisse Personen angehören können und andere eben nicht. Mit solchen Überzeugungen kann man dann schnell der Forderung nach gleichen Rechten oder mehr Mitsprachemöglichkeiten entgegentreten und die eigene Macht verteidigen.

Die Frage, ob ein Staat „in guter Verfassung“ sei, können wir aber so stellen, dass wir fragen, ob eine Verfassung immer die Funktionsfähigkeit des Staates gewährleisten kann. Eine der wichtigsten Fragen ist dabei, ob eine Situation eintreten kann, in der wichtige Funktionen nicht mehr ausgeübt werden können. In Österreich ist das im März 1933 passiert: Damals sind alle drei Präsidenten des Nationalrates zurückgetreten, und es gab keine Regeln, was in einem solchen Fall passieren soll. Damit war (so zumindest die Auffassung damals) niemand mehr da, um den Nationalrat wieder zu einer Sitzung einberufen zu können. Die Bundesregierung hat daher von einer „Selbstausschaltung des Parlaments“ gesprochen, und das zum Anlass genommen, um einen autoritären Staat nach ihren eigenen Vorstellungen zu errichten.

Wenn wir die Frage so stellen, dann können wir feststellen, dass Österreich durchaus „in guter Verfassung“ ist. Die Bundesverfassung ist so aufgebaut, dass kein Staatsorgan (also z.B. der Bundespräsident) ein anderes „ausschalten“ kann. Und sie enthält Vorkehrungen dafür, dass jedes Staatsorgan, das z.B. wegen einer Krankheit „verhindert“ ist, vertreten oder im schlimmsten Fall auch ersetzt werden kann. In Österreich darf es nach der Bundesverfassung auch keinen „Ausnahmezustand“ geben, in dem etwa alle Macht bei der Bundesregierung konzentriert wird, Gesetze aufgehoben werden oder die Gerichte keine Maßnahmen mehr überprüfen dürfen. Auch in einer Krisensituation wie jetzt müssen alle Staatsorgane funktionsfähig sein. Und selbst wenn im Nationalrat nicht mehr ausreichend viele Abgeordnete zusammenkommen können, ist dafür gesorgt, dass Bundespräsident und Bundesregierung dringende Entscheidungen nur mit ParlamentarierInnen gemeinsam treffen können.

Wenn wir die ganze Sache gewissermaßen „technisch“ betrachten (was gerade Juristinnen und Juristen zunächst einmal tun), dann können wir sagen, dass wir uns auch in der aktuellen Situation „in guter Verfassung“ befinden. Schließlich hat die Verfassung vorgesorgt, indem Grundrechte wie das Recht sich zu versammeln oder ein Unternehmen zu führen, für eine Zeit beschränkt werden können, wenn es notwendig ist. Die Verfassung macht auch klar, dass man (jedenfalls später) ohne weiteres Beschwerde dagegen einlegen kann. Für den Moment wird wohl kein Gericht etwas daran auszusetzen haben.

Wenn wir die ganze Sache nicht so technisch betrachten, dann stellen sich aber mehr Fragen: Warum tun soviele Menschen bei so einschneidenden Maßnahmen gleich mit? Warum tun andere erst mit, wenn sie gezwungen werden? Tun sie auch mit, wenn es einmal um ganz andere Sachen oder gegen andere Menschen geht? Tun sie es, weil ihnen gesagt wird, dass es so recht ist? Da kommt dann noch eine ganz andere Dimension der Frage nach der „guten Verfassung“ dazu: „In guter Verfassung“ sein, ist dann nicht nur das Funktionieren von Institutionen und von Regeln. Um „in guter Verfassung“ zu sein, braucht es dann auch ein Wissen davon, warum wir eine demokratische Verfassung haben, warum wir Freiheit und Rechte sichern und uns in friedlicher und offener Weise auf gemeinsame Lösungen einigen wollen. Das ist nicht bloß ein Wissen, über das Expertinnen und Experten verfügen sollten. Jetzt, wo sich die Verfassung bewähren muss, ist vielleicht ein guter Zeitpunkt, einmal genauer nachzufragen, was in der Verfassung steht, warum das so ist, und wie wir das alle gemeinsam sichern können. Und genau das wollen wir in dieser Kolumne ab jetzt tun.

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