Demokratie & Bürgerrechte

Ist die österreichische Bundesverfassung eigentlich alt oder neu?

In Medienberichten war auch nicht sehr viel über das Verfassungsjubiläum zu lesen. Wenn aber etwas zu hören und zu lesen war, dann wurde der Stolz auf die Verfassung betont. Es wurde hervorgehoben, wie sie sich seit langem bewährt hat, und wie weitsichtig ihre Verfasser gehandelt haben. Aber ist das so?

Wer den Text des B-VG von 1920 mit jenem von heute vergleicht, wird feststellen, dass eigentlich nur wenig unverändert ist. Das B-VG gehört zwar mittlerweile zu den ältesten Verfassungen der Welt, aber es ist zugleich eine der am häufigsten geänderten Verfassungen. Denn kaum eine Verfassung lässt sich so leicht ändern, und kaum wo ist die Schwelle, Änderungen durchzuführen, so niedrig wie in Österreich. Um die Bundesverfassung zu ändern, muss ein Bundesgesetz als „Bundesverfassungsgesetz“ bezeichnet und mit 2/3-Mehrheit (bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder) im Nationalrat beschlossen werden. Inhaltliche Vorgaben dafür gibt es nicht. Der Bundesrat hat nur dann ein Zustimmungsrecht (oder absolutes Veto), wenn mit einem Verfassungsgesetz die Rechte der Länder in Sachen Gesetzgebung oder Vollziehung eingeschränkt werden sollen. Und eine Volksabstimmung ist nur dann erforderlich, wenn es sich um eine „Gesamtänderung“ der Verfassung handelt. Das heißt: Solange sich eine 2/3-Mehrheit findet, kann man Verfassungsrecht immer ändern oder ergänzen.

In 100 Jahren hat sich kaum je ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Verfassung etwas Besonderes sein soll, mit dem man auch entsprechend sorgsam umgeht.

Seit 1955 ist das B-VG mehr als 100 Mal geändert worden, dazu kommen dutzende Verfassungsgesetze oder Verfassungsbestimmungen in anderen Gesetzen. Schon angesichts dieser Zahl kann man sich denken, dass das nicht bloß „große“ Fragen gewesen sind. Verfassungsrecht umfasst in Österreich auch viele Bestimmungen, wo man nur sichergehen wollte, dass sie besonders „gut halten“. In 100 Jahren hat sich kaum je ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Verfassung etwas Besonderes sein soll, mit dem man auch entsprechend sorgsam umgeht.

Aber haben das auch jene gewollt, die 1920 die Verfassung geschrieben und beschlossen haben? – Das ist nicht so leicht zu beantworten. Was sich aber beantworten lässt, ist, dass das B-VG 1920 nicht fertig war. Auf viele Punkte, die eine Verfassung im Allgemeinen ausmachen (etwa die Grundrechte oder die genaue Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern), konnten sich die politischen Parteien damals schlicht nicht einigen. Sie haben sie dementsprechend offen gelassen und angekündigt, es später noch einmal zu versuchen. Wenn heute darüber gesprochen wird, dass Österreich eine „Spielregelverfassung“ hat, und wenn der nüchterne Text des B-VG von 1920 gelobt wird, dann hat dessen Entstehung weniger mit „Weitsicht“ und „Offenheit“ und mehr mit den politischen Auseinandersetzungen 1920 zu tun.

Auffallend ist heute auch, dass Politiker*innen und Journalist*innen mehr von den „Werten der Verfassung“ als von den Spielregeln sprechen. Manche fordern auch ein Bekenntnis dazu ein. Was damit genau gemeint ist, lassen sie offen. „Wertfrei“ ist jedenfalls keine Verfassung. Wenn Parlamente Gesetze beschließen, dann treffen sie immer auch eine Aussage darüber, was der jeweiligen Mehrheit wichtig ist. Für Verfassungsänderungen, die die Unterstützung einer großen Mehrheit brauchen, gilt das umso mehr. Sie können uns also etwas darüber erzählen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders wichtig war, was man weiter behalten möchte, wie man den Staat und die Bürger*innen, die Menschen, die hier leben, verstehen will.

Wenn Parlamente Gesetze beschließen, dann treffen sie immer auch eine Aussage darüber, was der jeweiligen Mehrheit wichtig ist.

Wenn wir so an die Geschichte der Bundesverfassung herangehen, dann können wir in ihrem Text viele Spuren der Geschichte der letzten 100 Jahre entdecken. Drei davon möchten wir kurz vorstellen. Die erste betrifft das Verhältnis von Staat und Bürger*innen, die zweite Demokratie und ihren Schutz, die dritte Rechte und Werte.

Verwaltung und Bürokratie haben in Österreich eine Geschichte und Traditionen, die viel älter sind als die Bundesverfassung. Für viele Menschen sind sie „der Staat“, dem sie oft hilflos oder verständnislos gegenüber stehen. Das B-VG 1920 hat eine entscheidende Veränderung gebracht: Die Verwaltung darf seither nur mehr das tun, was in Gesetzen genau festgeschrieben ist. Bis sich dieser neue Gedanke durchgesetzt hat, dauerte es aber Jahrzehnte. Wichtige Impulse dazu kamen aber erst seit den 1950er- und 1960er-Jahren, als man in Österreich begann, sich für andere Staaten zu interessieren und sich nach und nach ein Verständnis davon entwickelte, was es heißt, Bürger*in und nicht „Untertan“ zu sein. Im B-VG wird das 1977 mit der Einrichtung der Volksanwaltschaft zum Ausdruck gebracht, die ein neues, unbürokratisches und umfassendes Verständnis von Kontrolle der Verwaltung brachte. Seit damals wurde auch darüber diskutiert, dass die Entscheidungen von Verwaltungsorganen durch Gerichte (und nicht von Landeshauptleuten oder dem/der zuständigen BundesministerIn) überprüft werden sollten. Das Verfahren sollte, ganz im Sinne der Betroffenen, fair und transparent ablaufen. Diese Diskussion dauerte weitere 30 Jahre, und erst 2012 wurden im B-VG die Verwaltungsgerichte eingeführt.

Österreich wurde erst 1918 zu einer echten parlamentarischen Demokratie. 1920 wurde sie mit einem starken Parlament im B-VG verankert. Das geschah aber in einer sehr offenen Form. Es war nicht ausgeschlossen, dass mit Verfassungsgesetz die parlamentarische Demokratie auch wieder eingeschränkt werden konnte. Ein Anlauf dazu wurde 1929 unternommen, aber dann in der Verfassungsreform dieses Jahres doch noch abgeschwächt. 1933 wurde die Verfassung gebrochen und eine autoritäre Kanzlerdiktatur eingesetzt. Es wäre aber – mit einer entsprechenden Mehrheit – nicht ausgeschlossen gewesen, Demokratie stark einzuschränken oder gar abzuschaffen. Eine Verpflichtung zur Verteidigung der Demokratie, jedenfalls gegen Faschismus und Nationalsozialismus, steht erst seit 1945 in der Bundesverfassung, genau im Verbotsgesetz. Sie wurde im Staatsvertrag von Wien 1955 bestärkt. Allerdings: Wenn heute über das Verbotsgesetz diskutiert wird, ist oft nur von Meinungsfreiheit die Rede. Das darin enthaltene Versprechen und die Pflicht, Demokratie zu verteidigen, wird bis heute kaum wahrgenommen.

1920 konnten sich die Parteien nicht darauf einigen, Grundrechte in das B-VG aufzunehmen. Einzig die Gleichberechtigung aller Staatsbürger*innen wurde in Art. 7 B-VG festgeschrieben. Sonst sollte der Grundrechtskatalog von 1867 weitergelten. Die weitere Entwicklung der Grundrechte in Österreich ist kompliziert, und wenn Österreich nicht 1958 der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten wäre, dann gäbe es wohl immer noch keinen Grundrechtskatalog. Warum das so schwierig war und ist, wollen wir in unserer nächsten Kolumne beschreiben. Für jetzt soll ein Blick auf Art. 7 reichen, denn (wie sich gut an der Geschichte des Feminismus und der Emanzipation nachvollziehen lässt) es reicht ganz offenbar nicht aus, nur Gleichberechtigung zu verankern. Es braucht immer ein Mehr an Verständnis und Maßnahmen, um sie auch zu verwirklichen. Die ersten Veränderungen in diese Richtung begannen in Österreich in den 1970er-Jahren. Als aber Art. 7 B-VG 1988 erstmals ergänzt wurde, ging es nur um die Möglichkeit, Amtstitel auch in weiblicher Form zu verwenden. Erst 1997 trat das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung hinzu. Und erst 1998 wurde das Bekenntnis von Bund, Ländern und Gemeinden zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau aufgenommen. Damit ist etwas verbunden, das auf den ersten Blick kaum auffällt, aber das charakteristisch für die Grundrechtsdebatten in Österreich geworden ist: Es geht nicht mehr in erster Linie um Rechte, sondern um Bekenntnisse, Ziele, Aufträge oder schlicht Werte. Auch damit werden politische Entwicklungen sichtbar, die wir uns in der nächsten Ausgabe genauer anschauen wollen.

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