Die Pandemie fordert uns alle. Die Ursache ist ein Virus, das die Welt ins Wanken bringt. Im Vergleich zu den noch vor uns liegenden Krisen ist das eher eine kleine Herausforderung. Sind wir für die kommenden Aufgaben gerüstet oder brauchen wir im 21. Jahrhundert neue Wege der politischen Gestaltung und demokratischen Willensbildung?
Es ist kein gutes Zeugnis für die Politik, wenn wir nach fast zwei Jahren Erfahrung mit dem Virus und mit breit verfügbaren Impfangeboten immer noch auf Lockdowns angewiesen sind. Wenn jetzt auch noch die Impfpflicht kommt, greifen wir, mit der WHO gesprochen, zum „absolut letzten Mittel“. Alles dies mag angesichts der faktischen Lage nötig sein und auch als juristisch verhältnismäßig bewertet werden. Es nehmen damit aber auch Polarisierung und Radikalisierung zu, wovon die aktuellen Anti-Corona-Demos zeugen. Ist das die Perspektive und Logik, mit der wir in der Pandemie, aber auch in den weiteren Krisen, in die Zukunft gehen wollen? Welche Wege kann es noch geben, um Solidarität nicht erzwingen zu müssen und um Krisen künftig so begegnen zu können, dass möglichst alle Menschen mitgenommen werden?
Die aktuelle Pandemie-Situation kann eines klar machen: Der Modus, wie Entscheidungen mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen getroffen werden, ist nicht krisenfest. Daher wollen wir eine Debatte über notwendige Innovationen der politischen Gestaltung anstoßen. Die Pandemie kann dabei ein Sinnbild sein. Sie zeigt uns, wie es auf jede und jeden ankommt. All unser Mitwirken oder Nicht-Mitwirken bestimmt die Zahl der Infektionen und damit die Höhe der Welle. Wollen wir sie wieder abflachen, geht es um ein gemeinsames Ziehen an einem Strang. Das zu koordinieren, ist die eigentlich politische Aufgabe. Auf dem Feld der Demokratie schaffen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür. Für beide Bereiche braucht es Augenhöhe, Balance und Mitsprache! Der Versuch einer Steuerung von oben, die uns über Druck und Anreize in die richtige Richtung lotsen will, ist gescheitert. Eine Kommunikation, die uns die Komplexität der Zusammenhänge nicht zutraut, war nicht erfolgreich.
Wir brauchen eine Stärkung der Demokratie
Wie also schaffen wir es als Gesellschaft, mit umfassenden Gestaltungsnotwendigkeiten klarzukommen? Wenn wir dabei nicht immer Gräben aufreißen wollen, brauchen wir eine Stärkung der Demokratie. Parteiensystem und Parlamentarismus allein reichen nicht mehr aus. Für eine mündige politische Willensbildung braucht es mehr. Es braucht die Perspektive einer Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um Formate der Mitgestaltung und um Strukturen des Mitentscheidens.
Um konkret zu werden: Die repräsentative Demokratie in Parlament und Regierung soll für ihre Entscheidungen künftig die Bevölkerung selbst konsultieren. Es geht dabei aber nicht darum, nur organisierte Interessensvertreter:innen einzubeziehen. Die Menschen sollen direkt angesprochen werden, da, wo sie sich in ihren Meinungen und Urteilen befinden. Von den Gemeinden bis auf die Bundesebene sollen Bürgerinnen und Bürger öffentlich und transparent in den Austausch kommen können. Dafür setzen wir auf das Format der Bürger:innenräte. Beispiele solcher konsultativer Verfahren haben gezeigt, wie die Teilnehmer:innen in schwierigen, kontroversen Fragen über Gräben hinweg zu gemeinsamen Lösungen finden.
Bürger:innenräte ermöglichen es Menschen konkret einzubinden
Wir sind in dieser Entwicklung bereits angekommen. In unserem Nachbarland Deutschland haben in den letzten Jahren mehrere professionell durchgeführte Bürger:innenräte stattgefunden. Jetzt hat dieses Format auch Eingang in den Koalitionsvertrag der neuen Regierung gefunden. Hierzulande wird es im kommenden Jahr einen von Leonore Gewessler und dem Umweltministerium eingesetzten Klimarat mit 100 Bürger und Bürgerinnen geben. Um die Bevölkerung möglichst breit abzubilden, werden für solche Versammlungen die Teilnehmer:innen durch spezielle Losverfahren bunt gemischt nach Alter, Herkunft oder Bildung ausgewählt. Wir sehen darin die Möglichkeit, auf allen politischen Gestaltungsebenen Menschen konkret einzubinden und im Gespräch zu mehr gegenseitigem Verständnis beizutragen. Auch die öffentliche Diskussion über die Ergebnisse dieser Versammlungen kann zu Zusammenhalt und einer konstruktiven politischen Willensbildung beitragen. Die Erfahrungen zeigen, wie Menschen, wenn sie keine organisierten Interessen vertreten müssen, sich konstruktiv in ihren Positionen bewegen und zu gemeinsamen, tragfähigen Lösungen finden können.
Ein solches Zusammenwirken von Parlamentarismus und vielfältiger Beteiligung als Ansatz einer vermittelnden Demokratie ist ein Baustein, der zu einer Stärkung der demokratischen Willensbildung beitragen kann. Ein weiterer Baustein ist die Notwendigkeit der direkten Mitbestimmung in Volksabstimmungen: Aus der Mitte der Rechtsgemeinschaft sollen konkrete Vorschläge und Gesetzesinitiativen über ein Volksbegehren zu einer Volksabstimmung gebracht werden können, wenn der Nationalrat sie nicht aufgreifen und annehmen will. Das ist für uns ein Grundgedanke der Demokratie, dass neben dem Wahlrecht auch das Initiativ- und Abstimmungsrecht zur Ausübung der vollen Souveränität notwendig ist. Zur Ausgestaltung dieser „zweiten Säule“ der Volkssouveränität gibt es seit Jahrzehnten verschiedene konkrete Vorschläge. Jetzt könnte der Zeitpunkt sein, sie ernsthaft zu diskutieren und eine adäquate Lösung für die österreichische Bundesverfassung zu finden. Zu unserem Zukunftsbild Österreichs gehört die direkte Gesetzgebung dazu, um für die anstehenden großen Gestaltungsaufgaben auch umfassendere Weichenstellungen beraten und direkt beschließen zu können. In der konkreten Ausgestaltung wird dann auch geklärt, welche Aufgabe partizipative und deliberative Elemente innerhalb von Volksabstimmungen haben können. Auch die Rolle der medialen Öffentlichkeit ist von entscheidender Bedeutung. Hier geht es darum, Manipulation und Fake News den Riegel vorzuschieben.
Mit diesen Bausteinen wollen wir an einer neuen demokratischen Architektur für Österreich bauen: Für die Gestaltung und Setzung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der großen Richtungsentscheidungen in den Lebensfragen unserer Rechtsgemeinschaft, muss es möglich sein, Initiativen direkt aus der Bevölkerung heraus anzustoßen und über einen adäquat ausgestalteten Weg bis hin zu einer verbindlichen Volksabstimmung zu führen. Und für eine reiche und bunte demokratische Kultur, für das Aufeinanderzugehen und für das Finden von Wegen, die auch Gegensätze überbrücken können, braucht es eine lebendige Öffentlichkeit, in der potentiell alle zu Wort kommen.
Das ist unsere Vision: Ein Zusammenspiel von Parlament und direkt-demokratischer Gesetzgebung, begleitet von einer Vielzahl von Gesprächs- und Beteiligungsprozessen in einer medialen Öffentlichkeit, in der sich das gemeinsame Erringen der Zukunft widerspiegelt. Wollen wir damit jetzt beginnen?
Die Autor:innen
Die vier Autor:innen Caro Hammoutene, Gerhard Schuster, Florian Wagner und Luise Wernisch-Liebich sind in unterschiedlicher Weise zivilgesellschaftlich engagiert und u.a. in der Initiative für komplementäre Demokratie, bei Mehr Demokratie Österreich, im Zukunftsrat Demokratie und bei Respekt.net tätig. Sie wollen mit ihrem Beitrag eine Debatte über eine zukunftsfähige demokratische Architektur für Österreich anstoßen.
Hier könnt ihr uns kontaktieren: debatte@direkte-demokratie.at