Seinen Ideen merkt man an, wie empört er über die Vorgänge der letzten Zeit ist: Ibiza, Parteienfinanzierung, Korruptionsvorwürfe. Die Frustration des „Normalbürgers“ (Neumayers Eigenbezeichnung) ist erheblich:
- Politiker*innen beschimpfen sich, verdächtigen sich gegenseitig, haben keine Diskussionskultur.
„Auch das sonstige Verhalten der Parlamentarier*innen – wie gelangweiltes Blicken auf das Handy – Unterhaltung mit den Nachbarn bei Reden von Vertreter*innen anderer Parteien sind für viele Zuseher unverständlich“. - Die Gewaltenteilung funktioniert nicht.
„Nationalrat und Bundesrat haben den Auftrag, nach eingehender Diskussion Gesetzesvorlagen zu beschließen (oder abzulehnen). De facto wird durch das derzeitige System des „Klubzwangs“ und den medial aufbereiteten „Vorgaben“ (Ministerratsbeschlüsse) der Parlamentarismus völlig zurückgedrängt. Den Oppositionsparteien und auch der Bevölkerung wird zu wenig Möglichkeit zu Stellungnahmen gegeben. Man hat den Eindruck, dass über alle Einwände und Gegenvorschläge – seien sie auch noch so berechtigt und konstruktiv – „drübergefahren“ wird.“ - Parteispenden und –finanzierung sind völlig intransparent und es gibt keine Konsequenzen bei Übertretungen.
Walter Neumayer schließt daraus:
Das Vertrauen in die Politik muss wieder hergestellt werden
Leserbrief von Dr. Walter Neumayer, 24. Juli 2019
1. Vorbemerkung
Dass das Vertrauen der österreichischen Bürger und Bürgerinnen in die Politik und das Ansehen der Politiker*innen durch die jüngsten „Skandale“ dramatisch gesunken ist, wird kaum mehr bestritten werden können. Bundespräsident Van der Bellen appelliert daher an die Politiker*innen, sich ihrer Verantwortung für die Republik Österreich bewusst zu sein und so schnell wie möglich vertrauensfördernde Maßnahmen zu setzen. Auch hatte der Bundespräsident bei der letzten Ansprache auch jede*n einzelne*n Österreicher*in gebeten, nicht zu verzweifeln – frei nach dem Motto „wir schaffen das“.
Bei der Fernsehdiskussion der EU-Spitzenkandidat*innen am 23. Mai 2019 im ORF versuchten alle Parteienvertreter*innen „auf den Zug aufzuspringen“ und sprachen von der Notwendigkeit der „moralischen Erneuerung“. Transparenz – Offenlegung – Vorbildwirkung usw. Gleichzeitig wurde ein Diskussionsstil an den Tag gelegt, der bei einer Vielzahl der Zuseher*innen wieder den Eindruck erweckte, dass man sich gegenseitig völlig misstraut und sogar den anderen korruptes Verhalten vorwirft. Wenn man bedenkt, dass jede*r „Normalbürger*in“ bei einem Korruptionsvorwurf wegen „übler Nachrede“ geklagt werden kann, verstärkt sich wieder der Eindruck, dass „die da oben“ machen können was sie wollen und über den Gesetzen stehen.
Dies ist für einen „Normalbürger“ mehr als frustrierend. Jedenfalls kann man sich nicht vorstellen, dass die Politiker*innen alleine bereit und fähig sind, ihr Verhalten zu ändern und ihren schlechten Ruf „aus dem Sumpf zu ziehen“, wenn nicht Druck aus der Bevölkerung kommt. Meines Erachtens sollten die Bürger*innen den Politiker*innen einmal klar vor Augen führen, was sie stört und was sie von den Politker*innen im Interesse der Republik Österreich erwarten.
Aus diesem Grunde habe ich in der nachstehenden Zusammenstellung versucht aufzuzeigen, was meines Erachtens die Bürger*innen stört und welche Maßnahmen zur Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit und des Ansehens der Politiker*innen ins Auge gefasst werden können.
2. Was stört die österreichischen Bürger und Bürgerinnen an der Politik?
2.1 Das Verhalten der Politiker*innen in der Öffentlichkeit
Z. B. stehen in parlamentarischen Diskussionen Beschimpfungen, Verunglimpfungen, Verdächtigungen auf der Tagesordnung. Auch das sonstige Verhalten der Parlamentarier*innen – wie gelangweiltes Blicken auf das Handy oder Unterhaltungen mit den Nachbarn bei Reden von Vertreter*innen anderer Parteien sind für viele interessierte Staatsbürger*innen unverständlich.
2.2 Das System der Gewaltenteilung funktioniert nicht bzw. wird „untergraben“
Nach dem verfassungsmäßig verankerten System der Gewaltenteilung sollten alle Gesetze von der gesetzgebenden Gewalt (Nationalrat und Bundesrat) nach eingehender Diskussion beschlossen werden. De facto wird durch das derzeitige System des „Klubzwangs“ und den medial aufbereiteten „Vorgaben“ (Ministerratsbeschlüsse) der Parlamentarismus völlig zurückgedrängt. Den Oppositionsparteien und auch der Bevölkerung wird zu wenig Möglichkeit zu Stellungnahmen gegeben. Man hat den Eindruck, dass über alle Einwände und Gegenvorschläge, seien sie auch noch so berechtigt und konstruktiv, „darübergefahren“ wird.
2.3 Es werden von Politiker*innen Ankündigungen gemacht, die in der Praxis nicht nachvollzogen oder bewiesen werden können und dadurch zu einer Irreführung der Bürger*innen führen
Als Beispiele dafür fällt mir die Ankündigungen der Regierung ein, wonach 2500 österreichische Gesetze aufgehoben wurden und es dadurch zu einem Bürokratieabbau kam. De facto handelt es sich um „totes Recht“ , das niemanden tangierte. Auch kann das Justizministerium nicht nennen, wie viele Verordnungen und Gesetze tatsächlich aufgehoben wurden. Das Gleiche gilt für die Ankündigung von Herrn Alt-BK Kurz, 1000 EU-Verordnungen aufzuheben. Auf Anfrage, um welche es sich dabei handeln soll, kann er nicht einmal fünf Verordnungen nennen. Jede*r Normalbürger*in muss in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren beweisen können, dass seine Aussagen der Wahrheit entsprechen.
2.4 Die Intransparenz der Parteispenden und Wahlwerbung
Durch Nichtoffenlegung der Parteispenden und Unterstützer*innen wird der Eindruck erweckt, dass die Parteien den Großspender*innen verpflichtet sind.
2.5 Geschenke an Politiker*innen
Durch großzügige „Geschenke“ und „Zuwendungen“ an Politiker*innen und von diesen bestimmten Vereinen und Organisationen bei Geburtstagsparties und div. zu Ehren von Politiker*innen organisierten Events wird der Eindruck der „Freunderlwirtschaft“ verstärkt.
2.6 Mangelnde Konsequenzen bei Übertretungen von Rechtsvorschriften
Viele Bürger*innen haben den Eindruck, dass sie bei jeder noch so kleinen Verwaltungsübertretung bestraft werden, „die da oben“ es sich aber richten können. De facto gibt es jedenfalls keine Konsequenzen bei Überschreitungen der Wahlkampkosten – auch bleiben Beschimpfungen im Parlament, die rechtlich vielfach als „üble Nachrede“ im Sinne des § 111 STGB anzusehen sind, ohne jegliche Konsequenzen.
3. Welche Maßnahmen können zur Stärkung des Vertrauens in die Politik ergriffen werden
Um wieder Anstand, Ethik, Respekt, Toleranz in der Politik mehr Stellenwert zu geben und der „Kultur der Menschlichkeit“ (Abg. Bissmann) wieder den Vorzug zu geben, habe ich folgende Überlegungen und Vorschläge.
3.1 Verhalten in der Öffentlichkeit (Parlament)
Das Verhalten in den Parlamentssitzungen muss von Anstand und Toleranz gegenüber Andersdenkenden geprägt sein. Jede*r Abgeordnete muss sich bei der Angelobung verpflichten, die vom Ethikrat für Politiker*innen ausgearbeiteten (siehe Pkt. 3.3) Richtlinien einzuhalten. Oberster Grundsatz dieser Verhaltensregeln sollte die „Goldene Regel“ sein: „Was Du nicht willst, dass man dir tu – das füg auch keinem Anderen zu.“
3.2 Änderung der Geschäftsordnung des Nationalrats
Es müssen in der Geschäftsordnung des Nationalrats Konsequenzen (Ermahnungen, Strafen etc.) festgelegt werden, wenn es zu Beschimpfungen und Beleidigungen oder offensichtlich falschen oder irreführenden Vorwürfen eines unehrenhaften Verhaltens kommt.
3.3 Ethikrat für Politiker*innen
In einigen Bereichen – wie zB. Werbung oder Public Relations – gibt es Organe der freiwilligen Selbstkontrolle der betreffenden Branche (Werberat und Ethikrat für Public Relations). Analog sollte der Ethikrat für Politiker*innen ein Organ der freiwilligen Selbstkontrolle der in Österreich tätigen Politiker*innen (Vertreter von politischen Parteien) sein. Konkrete Aufgabe des Ethikrates sollte sein, Missstände und Fehlverhalten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit der Politiker*innen zu benennen (Vertreter*innen von politischen Parteien). Konkrete Aufgabe des Ethikrates ist es, Missstände und Fehlverhalten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit der Politiker*innen zu benennen, zu mahnen oder zu rügen.
3.4 Stärkung der Rechte der Bürger*innen
3.4.1 Schaffung eines Bürgerrats
Im Rahmen des Rechnungshofes sollte eine Art „Bürgerrat“ installiert werden, bei dem jeder Bürger, wenn gewünscht vertraulich, melden kann, was ihn in Zusammenhang mit Politiker*innen und politischen Parteien stört bzw. aufgefallen ist oder ev. der Verdacht besteht, dass Rechtsvorschriften nicht eingehalten werden.
Dieser, aus unabhängigen Beamt*innen und Bürgervertreter*innen bestehende Rat, sollte völlig weisungsfrei die Meldungen auf Plausibilität überprüfen und danach den betroffenen Politiker*innen bzw. die Partei um Stellungnahme bitten. Betreffen die Beschwerden das Verhalten der Politiker*innen, kann der Bürgerrat auch den Ethikrat um weitere Veranlassung bitten. Sämtliche vom Bürgerrat an die jeweiligen Politiker*innen gerichteten Anfragen und deren Antworten müssen auf der noch einzurichtenden Website des Bürgerrats bzw. des Ethikrates veröffentlicht werden.
3.4.2 Recht zur Stellungnahme
Das Recht der Bürger*innen, zu Gesetzen und Verordnungen Stellung zu nehmen, muss auf alle Gesetze und Verordnungen ausgedehnt werden. Für die Begutachtung muss eine angemessene Frist (zumindest sechs Wochen) vorgesehen sein.
3.4.3 Verpflichtung der Politiker*innen gegenüber Bürger*innen/Auskunftsrecht
Analog zu den Bestimmungen des Auskunftspflichtgesetzes müssen die Politiker*innen verpflichtet werden, allfällige Anfragen von Bürger*innen oder des Bürger- und Ethikrates vollständig und gewissenhaft zu beantworten.
3.5 Stärkung des Rechnungshofes bzgl. Kontrolle der Parteispenden
3.5.1 Verhängung von Strafen bei Rechtsverstößen durch die Parteien z. B. gegen die Transparenz- und Parteispendengesetze
Meines Erachtens sollte jede Partei eine*n „verantwortlichen Beauftragte*n“ nominieren müssen, der im Falle der Nichteinhaltung der von den Parteien begangenen Rechtsübertretungen auch persönlich nach dem Strafrecht zur Verantwortung gezogen werden kann. Erfreulicherweise hat ja Präsidentin Kraker (Anm. d. Redaktion: Präsidentin des Rechnungshofs) sich bereits dieser Thematik angenommen und konkrete Vorschläge vorgelegt.
3.6. Verbot der Geschenkannahme durch Politiker*innen
Kein*e Politiker*in darf weder direkt noch indirekt über div. Verbände, Vereine oder Vereinigungen Geld- oder Sachspenden (kostenlose Einladungen etc.) annehmen. Wird z.B. ein*e Politiker*in geehrt oder gefeiert, so dürfen die eingeladenen Gäste nur gebeten werden, allfällige Zuwendungen an anerkannte gemeinnützige Hilfsorganisationen zu überweisen. Jedoch darf keine Spendenbox aufgestellt werden. Dadurch muss vermieden werden, dass sich Spender*innen die „Gunst“ von Politiker*innen erkaufen können.
3.7. Ausbildung der Politiker*innen
Jede*r Politiker*in muss die Absolvierung einer Ausbildung nachweisen. Es sollte daher in einer Ausbildungsverordnung definiert werden, wer diese Ausbildungen vornehmen kann und welche Inhalte dort vorgetragen werden. Sicherlich sollten Recht, Verfassung, Moral und Ethik die wichtigsten Ausbildungsthemen sein.
3.8. Selbstverpflichtung der Politiker*innen
Jede*r in einer politischen Partei tätige Politiker*in muss sich neben der Einhaltung der Gesetze und Verordnungen und gegebenenfalls von div. Geschäftsordnungen, auch zu Moral und Ethik bekennen und sich zur ehrlichen und ausführlichen Beantwortung allfälligen vom Ethik- und Bürgerrat gestellten Anfragen verpflichten. Damit soll den Politiker*innen „der Ernst der Lage“ und Erwartungen der Bürger*innen vor Augen geführt werden.
3.9 Verbot der Irreführung der Bürger*innen – neuer Straftatbestand
Ein interessanter Ansatz wäre vielleicht auch ein „grobes Fehlverhalten“ der Politiker*innen strafrechtlich zu sanktionieren, wie dies derzeit in England diskutiert wird. Bekanntlich wirft ein Privatankläger Boris Johnson vor, „die Öffentlichkeit mit falschen Angaben beim EU-Referendum in die Irre geleitet zu haben“. Natürlich besteht das Problem darin, die Strafnorm exakt zu definieren. Überlegenswert scheint es dennoch zu sein.
4. Weitere Vorgangsweise
Meine dargestellten Überlegungen und meine Empfehlung zur Schaffung eines Ethik- und Bürgerrates sollten alle im Nationalrat vorgelegten Parteien mit der Bitte um Stellungnahme vorgelegt werden. Die gesammelten Antworten sollten von einem Expert*innenteam (dh. provisorischen Bürgerrat) bestehend aus Jurist*innen, Politikwissenschafter*innen und Kommunikationsexpert*innen sowie Bürgervertreter*innen evaluiert werden und danach dem Bundespräsidenten, dem*der Nationalratspräsident*in und den Vertreter*innen der Parteien zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt werden. Vielleicht finden sich dann tatsächlich Vorschläge und Überlegungen die im Nationalrat eine Mehrheit finden. Für mich wäre dies ein erster Schritt zur Wiedererlangung des Vertrauens in die Politik.
(Leserbrief redaktionell angepasst)
Dr. Walter Neumayer
- Geb. am 25.5.1952
- Studium an der Juridischen Fakultät – Promotion 1977
- Von 1977-2014 in der Rechtsabteilung der Unilever Austria Gmbh tätig
- 1985: Herausgabe des „Handbuches zur Praxis des Lebensmittelrechts“
- Vortragender zu Themen wie Lebensmittelrecht-UWG-Umweltrecht-Gewerberecht-Verpackungsverordnung/ARA
- Div. Veröffentlichungen zum Thema Lebensmittelrecht (Zeitschrift„Nutrition“)
- Experte in der Codexunterkommission A1 Judikatur zum Lebensmittelrecht
- Jahrelang Vorsitzender div. AG im FV der Nahrungsmittelindustrie und ARA(Abfallvermeidung)
- 2010-2014 Vertreter der Ö. Speiseölindustrie bei der IMACE (Brüssel)
- 2014 Verleihung des Titels Professor
- Seit 1996 Vorsitzender des örtlichen Nationalparkbeirats der Gemeinde Orth
- 2018 Vorsitzender des Bürgerrats „Gemeinwesenzentrum“ in Orth /D