Ein paar Tage vor dem Herbst-Lockdown 2020 treffen Andrea Seewald, Matías Haber, Ernst Löschner, Sepp Vinatzer und ich uns in einem Wiener Kaffeehaus, um über Crowdfunding für das „Tinkers Center“ zu sprechen. Die zwei Projektinitiator*innen und ich kommen gleichzeitig an – und wir merken schnell: Wir schwingen gleich. Wir möchten am liebsten sofort loslegen, denn die Idee ist eine Großartige: Andrea Seewald und Matías Haber möchten in Chihuahua in Uruguay ein Kulturzentrum mit Café und hauseigener veganer Rösterei gründen. Dort werden vor allem ihre Schüler*innen, Menschen mit Behinderung, Arbeitsplätze finden. Andrea erzählt, wie schwer es in Uruguay für Menschen mit Behinderung ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Denn obwohl das Inklusionsgesetz in einigen Bereichen beispielhaft ist und etwa gleiche Bezahlung für Menschen mit Behinderung vorsieht, ist es in der Praxis oft nicht möglich, Vorurteile von Arbeitgeber*innen zu überwinden. „Los Tinkers“ – unter diesem Pseudonym hat sich das Duo in der Kulturszene einen Namen gemacht – wollen hier ihren Beitrag leisten.
Dass Inklusion für Andrea und Matías eine Herzensangelegenheit ist, spürt man sofort. Die beiden arbeiten seit über 10 Jahren mit Freude und Begeisterung in diesem Bereich. Sie organisieren das renommierte Tango-Festival „Tango en Punta“, das Menschen mit und ohne Behinderung zusammenführt. Denn „eigentlich ist Menschen zusammenführen und verbinden unsere besondere Stärke“, erzählt mir Andrea im Interview: „Es ist unser Spezialgebiet, Menschen wahrzunehmen und zu vernetzen. Zusätzlich schaffen wir einen schönen Rahmen, in dem sich Menschen begegnen und diese Begegnung auch gemeinsam zelebrieren können.“ Für ihre Arbeit im Bereich Inklusion wurden sie sowohl von der Vereinigung „DSI Down Syndrome International“ für ihre herausragenden Leistungen, die das Leben von Menschen mit Down-Syndrom gestärkt und bereichert haben, als auch vom Ministerium für Soziale Entwicklung in Uruguay, anerkannt.
Das inklusive Festival, bei dem sich Menschen aus aller Welt mit ganz unterschiedlichen Hintergründen begegnen hat insgesamt schon 17 Mal stattgefunden. Die Corona-Pandemie 2020 hat Andrea und Matías schließlich dazu gebracht, ihren Traum vom Tinkers Center in die Tat umzusetzen. „Das Center verbindet unsere Tanz- und Kulturprojekte mit der Schaffung von Arbeitsplätzen“. Was genau hinter dem Projekt steht, und warum es so wichtig ist, Begegnungsräume zu schaffen, in denen es Menschen mit sich selbst und miteinander gut geht, hat Andrea derdiedasRespekt.at erklärt.
Liebe Andrea! Danke, dass du dir für einige Hintergrundfragen zum Projekt „Tinkers Center“ Zeit genommen hast, bevor ihr nach Uruguay zur Umsetzung reist! Vorneweg: Ihr kommt eigentlich beide aus dem kulturell-kreativen Bereich. Wie seid ihr zum Arbeitsbereich Inklusion gekommen?
Ich hatte damals in einer inklusiven Tanz-Company Tango unterrichtet. Als mein damaliger Tanzpartner und ich uns trennten, fragte ich einfach Matías, ob er mit mir gemeinsam Tango unterrichten möchte. Er hatte davor noch nie Tango unterrichtet, aber er ist damit aufgewachsen. Wir haben es dann einfach ausprobiert und für Matías war es ein ganz einschneidendes Erlebnis – er hat gemeint: „Zum allerersten Mal seit ich in Österreich bin, habe ich das Gefühl, dass ich ganz sein kann, wie ich bin. Und ich bin mit Leuten zusammen, die auch komplett authentisch sind.“ Ich hatte das Gefühl, dass er sein gesamtes menschliches Potential ausspielen kann – Matías ist der geborene Lehrer. Er hat ein ganz natürliches Gespür dafür, sich mit Menschen zu verbinden und er ist total kreativ in der Lösungsfindung. Also, wenn er das Gefühl hat, dass es irgendwo hakt, bleibt er nicht beim Problem, sondern er findet ganz schnell spannende Lösungen. Wir haben dann das erste Festival in Uruguay organisiert, Matías war es wichtig etwas Kulturelles bei sich „zu Hause“ zu machen. Er kommt aus einem sehr exklusiven Ort, von dem viele Leute oft vergessen, dass dort auch ganz normale Leute leben. Und das Inklusive an diesem exklusiven Ort war uns ein zentrales Anliegen – es war uns wichtig, dass von Anfang an Tangoklassen im Festival in der Öffentlichkeit, für alle sichtbar, stattfinden. Mit der Hilfe von staatlicher Unterstützung konnten wir auch die kostenfreie Unterbringung für Menschen mit Behinderung anbieten.
Wie ist das Festival entstanden und was zeichnet es für dich persönlich aus?
Wir wollten eine Plattform kreieren, bei der alle sie selbst sein können, sich mit anderen verbinden und einfach feiern. Ich merke, dass wir uns das im Alltag oft nicht gestatten, dass wir immer wieder meinen, funktionieren zu müssen. Räume, in denen es uns bewusst mit uns selbst und miteinander gut geht, gibt es eigentlich fast keine…
Das Herzstück unseres Festivals sind natürlich alle inklusiven Aktivitäten, von den Klassen bis zu den Milongas, denn das ist auch das Besondere an den inklusiven Klassen: Menschen können so sein, wie sie sind. Meine Eltern sind z.B. keine Tango-Tänzer, aber sie kommen immer wieder in die inklusive Klasse, weil sie dort nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie irgendetwas können oder erreichen müssen. Sondern dass sie einfach so sein können, wie sie sind.
Für uns ist die Essenz des Tangos, dass man in sein eigenes Spüren kommt und wahrnimmt, wo der oder die andere ist und wo wir einander begegnen. Der Tango ist in diesem Sinn ja auch ein Dialog, es geht immer um ein gegenseitiges Zuhören und Mitteilen und das möglichst gleichberechtigt.
Wie seid ihr auf die Idee des Tinkers Center gekommen?
Als wir einander begegnet sind, waren wir beide an einem Punkt in unserem Leben, an dem wir auch noch etwas anderes machen wollten. Wir waren sehr lange künstlerisch tätig – ich komme aus dem zeitgenössischen Tanz und Matías eigentlich aus der Oper – und beide hatten wir das Gefühl, dass wir manchmal in einer recht abgeschlossenen Welt leben. Das Spannende am Tango ist, dass man Leuten begegnet, die aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen kommen. Wir wollten unsere Fähigkeiten einfach dazu einsetzen, im alltäglichen Leben etwas Gutes zu bewirken.
Die Idee vom Tinkers Center gibt es schon ganz lange. Der Plan, das Center in Uruguay ins Leben zu rufen ist auch deswegen entstanden, weil das soziale Auffangnetz für Menschen mit Behinderung nicht so gut ist, wie in Österreich. Vor allem im Kontakt mit den Eltern von unseren Schüler*innen haben wir mitbekommen, dass sie sich viele Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Vor allem um die Bereiche Arbeit und Wohnen. Also haben wir beschlossen, hier einen Beitrag zu leisten. Für uns bringt es aber auch mehr Kontinuität. Natürlich unterrichten wir während des Jahres, aber das Festival gibt es nur zweimal im Jahr. Wir schaffen mit dem Tinkers Center einen Ort, an dem auch abgesehen vom Festival die Gelegenheit gegeben ist, dass sich Leute verbinden. Der Fokus liegt bei der Eingliederung in die Arbeitswelt, aber für uns ist es außerdem auch wichtig, dass es den Leuten gut geht und sie Freunde haben und wir dafür die entsprechenden kulturellen Aktivitäten anbieten.
Wie soll das Projekt umgesetzt werden? Was sind die konkreten Schritte?
Damit das „Tinkers Center“ starten kann, brauchen wir zuerst die Kaffeerösterei, um so rasch wie möglich die ersten Arbeitsplätze schaffen zu können und wir damit dann auch einen finanziellen Impuls bekommen, um die weiteren Schritte umzusetzen. Unser Ziel ist, dass sich das Projekt innerhalb von drei Jahren selbst finanziert und selbst trägt. Wir stellen uns bei all unseren Projekten, die wir umsetzten immer die gleichen Fragen: Was ist das Allerwenigste? Was wird unbedingt gebraucht, damit wir loslegen können? In diesem Fall sind es der Kaffeeröster, die Kaffeemühle, die Rohbohnen, das Verpackungsmaterial und die Versiegelungsmaschine. Damit können wir jetzt einmal in unserer Garage anfangen, weil wir wissen, dass mit dieser Kraft und Energie dann alles kommt, was gebraucht wird. Unser Ziel ist es, Schritt für Schritt auszubauen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.