Crowdfunding

marie: Journalismus als soziales Handwerk

Anlässlich des erfolgreichen Crowdfundings auf Respekt.net wollten wir mehr über die Voralberger Straßenzeitung marie in Erfahrung bringen. Im Gespräch mit marie-Redakteurin Christina Vaccaro.

Hallo Christina, danke, dass du dir Zeit genommen hast. Sollen wir gleich beginnen? Was ist die Vorarlberger Straßenzeitung marie und was tut sie?

Wir verstehen uns als ein soziales Medienprojekt. Wir sind eine Zeitung, die monatlich erscheint und ausschließlich über den Straßenverkauf erhältlich ist. Das heißt, dass unsere Zeitung nur über unsere Verkäufer*innen an die Öffentlichkeit gebracht wird. Wir verstehen uns als Instrument zur Selbsthilfe.

Seit wann gibt es die Straßenzeitung marie und wie ist das Medienprojekt entstanden?

Uns gibt es seit dem 8. Dezember 2015, bei der Gründung war ich aber noch nicht dabei. Robert Thoma, der Gründer der marie, hatte die Idee, dass es in Vorarlberg auch eine Straßenzeitung geben sollte. Es gab ganz viele kritische Stimmen, die meinten: „Ah nein, das wird nicht funktionieren! Wir sind viel zu ländlich, nicht so wie in Wien, wo man viel leichter eine größere Masse an Leser*innen erreicht.“ Robert hat sich dann aber trotzdem ein paar Gleichgesinnte gesucht, die diese Idee ebenso unterstützen wollten. Am Anfang haben alle etwas Geld in die Kassa gelegt, um überhaupt den Druck finanzieren zu können. Dann war auch schon die erste Ausgabe innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir weltweit eine der Straßenzeitungen sind, die, bezogen auf die Bevölkerungsdichte, eine sehr hohe Auflage haben. Obwohl wir keine großen Städte in Vorarlberg haben, werden wir sehr gut angenommen.

Was macht euren Erfolg aus?

Es gibt bei Straßenzeitungen grundsätzlich zwei Konzepte. Ein Ansatz ist Straßenzeitungen von sozialen Institutionen herauszugeben. Da wird zum Teil viel ehrenamtlich geschrieben oder es kommen auch Beiträge von den Betroffenen selbst. Bei uns ist das so, dass wir alle Journalist*innen sind, die aus der Medienwelt kommen. Wir verstehen unser journalistisches Handwerk auch als ein Soziales und zwar in dem Sinne, dass wir wirklich ein gutes Produkt entwickeln wollen. Wir wollen es dann so in die Hände der Verkäufer*innen legen können, damit es nicht nur einmalig aus Mitleid gekauft wird sondern wirklich dauerhaft gekauft wird. Einfach weil die Qualität stimmt. Wir glauben, dass das unser Erfolgsrezept ist.

Ihr versteht euch als ein gemeinnütziges Projekt und auch als Sprachrohr für Menschen, die in Randgruppen gedrängt werden. Bei euch schreiben aber ausgebildete Journalist*innen. Fließt bei euch der Input der betroffenen Menschen in die Artikel mit ein?

Ja, natürlich. Wir haben des Öfteren auch Verkäufer*innen-Portraits und erzählen ihre Fluchtgeschichte und schreiben auch über die Anliegen unserer Verkäufer*innen. Man kann aber nicht nur darüber berichten, weil es dann für die Leser*innen irgendwann nicht mehr so interessant wird, da viele dieser Geschichten gemeinsame Aspekte aufweisen. Wir versuchen das Soziale auch damit einzubringen, dass wir möglichst verschiedene soziale Themen in unsere Artikel aufnehmen. Was uns noch ausmacht, ist, dass wir ein großes Vertrauen von unseren Leser*innen genießen. Oft kommen Leser*innen mit Geschichten auf uns zu, die sie nur der marie und keiner Tageszeitung erzählen würden. Sie wissen wie wir berichten und dass wir diesen sozialen Hintergrund haben.

Es entwickeln sich sogar Freundschaften und Leser*innen rufen und ab und zu an und fragen nach der*m Verkäufer*in.

Du hast nun schon öfter eure Verkäufer*innen erwähnt. Wer sind denn eure Verkäufer*innen?

Unsere Verkäufer*innen sind überwiegend Menschen mit Fluchterfahrung und stammen meistens aus afrikanischen Ländern, wie zum Beispiel Nigeria. Die meisten von ihnen sind Männer und sozusagen „im besten Alter“. Sie wollen und brauchen eine Aufgabe, einen Platz in der Gesellschaft. Sie wollen gesehen werden. Das ist ganz wichtig für die Menschen. Und wir bieten ihnen eben die Möglichkeiten. Sie bekommen durch den Straßenverkauf eine Tagesstruktur und können etwas dazuverdienen.  Ich persönlich aber glaube, dass das wichtigste ist, dass sie mit der Gesellschaft in Kontakt kommen. Es entwickeln sich sogar Freundschaften und Leser*innen rufen und ab und zu an und fragen nach der*m Verkäufer*in: „Er steht schon seit einer Woche nicht mehr da, ist ihm etwas passiert? Geht es ihm eh gut?“ Da gibt es schon Bindungen und Beziehungen, die hier entstehen.

Wir beide hatten ja mal kurz darüber gesprochen, dass die Verkäufer*innen der Straßenzeitung marie teilweise auch von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Könntest du kurz darauf eingehen und erläutern, in welcher Form und warum?

Ja, wie schon erwähnt handelt es sich bei den meisten unserer Verkäufer*innen um Menschen mit Fluchterfahrung. Die meisten von ihnen wurden daher anfangs von sozialen Institutionen in Quartieren untergebracht. Sie waren glücklicherweise nicht obdachlos, aber sie waren quasi wohnungslos. Aber inzwischen sind einige von den Verkäufer*innen auch privat untergekommen, sie haben sich beispielsweise zusammengetan und haben Wohngemeinschaften gegründet. Wir wissen aber nicht wie viele von ihnen genau wohnungslos sind.

Wie viele Verkäufer*innen arbeiten für die marie?

Ungefähr 60.

Du hast erwähnt, dass sich die marie als Angebot zur Selbsthilfe für Menschen, die entweder an oder unter der Armutsgrenze leben, versteht. Warum ist dieses Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ so wichtig?

Das ist jetzt meine ganz persönliche Meinung, da ich Journalistin und keine Sozialarbeiterin bin. Ich persönlich glaube, dass es ganz wichtig für Menschen ist zu erleben, dass sie sich selbst helfen können und dass sie nicht immer nur bekommen oder von sozialen Institutionen abhängig sind. Obwohl diese sozialen Institutionen sehr, sehr wichtig sind. Es ist aber wichtig, dass Menschen auch die Erfahrung machen können, dass sie ihre Situation selbst verbessern und ihr Leben auf eigenständige Art und Weise zum Besseren beeinflussen können. Ich glaube, das ist sehr wichtig.

Nun zur buchmarie. Ihr hattet auf Respekt.net ein Crowdfunding-Projekt für die buchmarie angelegt, das sehr erfolgreich gelaufen ist. Wir gratulieren hierzu. Was ist die buchmarie und was ist das Ziel der buchmarie?

Die buchmarie ist das erste Vorarlberger Straßenbuch. Es ist ein literarisches Werk, für das Autor*innen aus Vorarlberg Texte exklusiv für uns geschrieben haben. Unsere Idee war, dass wir den Verkäufer*innen gerne eine Publikation in die Hand geben wollten, die länger als eine normale Zeitungsausgabe ist und damit etwas ist, das sie längerfristiger verkaufen können. Dieses literarische Werk dient als Ergänzung zu unserer journalistischen Arbeit. Es ist ein hochwertiges Produkt und wir wünschen uns natürlich, dass es jetzt auch in der Weihnachtszeit beispielsweise als Geschenk dienen kann.

Wir erscheinen am 22. November und hoffen, dass einige unserer Leser*innen das Buch als ein sinnvolles Weihnachtsgeschenk kaufen und verschenken werden.

Im Grunde ist es ein solidarisches Projekt.

War das eure erste Crowdfunding-Erfahrung? Wie habt ihr das Crowdfunding erlebt?

Es ist unser erstes Crowdfunding. Die Straßenzeitung ist unabhängig von öffentlichen Geldern und auch sonst hatten wir noch nie einen Spendenaufruf gestartet gehabt. Für dieses Projekt wollten wir aber sehen – da es sich um eine größere Summe handelte – ob die Bevölkerung das überhaupt möchte. Wir sind glücklich, dass das Interesse so groß war. Und natürlich hätten wir die hohen Druckkosten nicht so ohne weiteres übernehmen können. Das wirtschaftliche Risiko wäre zu groß gewesen.

Wir sind daher unglaublich dankbar, wie gut das Projekt bei unseren Leser*innen angekommen ist und wir danken all unseren Unterstützer*innen. Dieses Projekt ist eine Kooperation und ohne die Mithilfe von Unterstützer*innen, Autor*innen und dem literatur:voralrberg netzwerk wäre es nicht zustande gekommen. Im Grunde ist es ein solidarisches Projekt.

Glückwunsch auch von unserer Seite, auch wir haben uns gefreut, dass das Projekt so gut lief und wir freuen uns schon auf das Buchexemplar.

Christina Vaccaro ist seit 2017 bei der Vorarlberger Straßenzeitung marie tätig. Sie arbeitet als Redakteurin. 

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