Flucht & Zuwanderung

Mutter und Sohn

Erst klingelt es leise. Dann bricht der Ton immer lauter durch das Summen des Mixers. Fanny Binder dreht sich zu der Jacke um, die hinter ihr an der Wand hängt. Rote Beete Saft tropft von ihrem Kochlöffel auf den Steinboden des griechischen Biogeschäftes, in dem sie gerade ihren ersten veganen Kochkurs gibt. Es hört auf zu klingeln. „Oh shit“, sagt sie leise.

Die Teilnehmer des Kochkurses, die in einem Stuhlkreis um den Holztisch versammelt sind, haben nichts gemerkt. Nur eine ältere Dame kommentiert, es passiere ihr auch ständig, dass sie ihr Telefon unkontrolliert klingelt. Binder hat ihr Telefon seit drei Monaten nicht mehr lautlos gestellt. Sie legt es sogar beim Duschen auf den Waschbeckenrand. Jeden Moment könnte ihr Sohn Sean aus dem Gefängnis anrufen. Zurückrufen kann sie nicht, die Nummer ist unterdrückt. Jeder verpasste Anruf lässt sie mit Fragen zurück.

Seit 103 Tagen ist Sean Binder an diesem Tag im Gefängnis. Und Fanny seit drei Monaten auf den Ägäischen Inseln. Der 24-jährige deutsche Rettungsschwimmer und Ersthelfer bei Such- und Rettungsaktionen der Hilfsorganisation Emergency Response Center International (ECRI) wurde am 28. August 2018 auf der Insel Lesbos verhaftet. Die Vorwürfe wiegen schwer: Menschenschmuggel, Bereicherung durch Spenden, Geldwäsche, Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Sean bestreitet sie. Seine Anwälte, Freunde und andere humanitäre Helfer auf Lesbos sind sich einig: Binders Fall sei ein weiterer Schauprozess zur Kriminalisierung von freiwilligen Helfern, wie sie im letzten Jahr auch in Italien oder Malta geführt wurden.

Laut Anklageschrift könnte Binder für 24 Jahre in Haft kommen. Die Vorstellung lähmt seine Mutter Fanny jeden Tag.

Für sie wird das Leben nach Seans Verhaftung zu einer täglichen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Ohnmacht. Und dem Gefühl, in Europa nicht mehr sicher zu sein.

Im März 2018, zwei Jahre nach dem EU-Türkei Abkommen, das die Ägäischen Inseln zu Pufferzonen für Geflüchtete verwandelt hat, besuchte Binder ihren Sohn zum ersten Mal auf der Insel. „Ich dachte er schläft über seiner Müslischüssel ein, so müde war er“, sagt sie.

Sie sitzt bei einem Sojalatte in einem Café in der Hafenstadt Mytilini. Ihr Handy liegt zwischen ihren Händen und der Tasse auf dem Tisch. Wenn Fanny erzählt, lacht sie viel. Manchmal tränen ihre Augen. Sie weiß selbst nicht mehr, ob sie aus Freude über sich selbst weint oder weil ihre eigene Machtlosigkeit auf einmal über ihr zusammenbricht. „Sean hat in dieser Arbeit etwas gefunden, dem er sich vollkommen hingeben konnte“, sagt sie.

Sean Binder und Freunde bei seiner Rückkehr |

Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung ist Sean Binder seit einem Jahr als freiwilliger Helfer auf Lesbos. Nach dem Masterstudium der Internationalen Beziehungen in London wollte er Erfahrung im humanitären Bereich sammeln. Er entschließt sich, auf Lesbos zu volontieren.

Dort, wo seit dem EU-Türkei Abkommen im März 2016 über 6,000 Geflüchtete in dem sogenannten Hot-Spot Lager von Moria festsitzen. In einem ehemaligen Militärgelände, das eigentlich nur für 2,300 Menschen Platz hat.

Tausende Menschen leben in Containern, dünnen Zelten und unter Plastikplanen. Über 1.000 weitere, darunter viele Kinder, schlafen zwischen den angrenzenden Olivenhainen.

Trotz EU-Türkei Abkommen setzen noch immer hunderte Menschen täglich auf die Ägäischen Inseln über. In Griechenland ist die sogenannte „Migrationskrise“ zu einer Organisationskrise geworden. Manche Geflüchtete warten seit über zwei Jahren auf die Entscheidung, ob sie weiter auf das griechische Festland übersetzen können oder zurück in die Türkei müssen.

Sean ist einer von vielen Freiwilligen, die versuchen, die Lücken im Versorgungssystem zu füllen. Er arbeitet in einer Zeit, in der die privaten Helfer immer mehr ins Fadenkreuz der Behörden kommen. Der Vorwurf: Sie würden den Flüchtenden, die Überfahrt nach Europa erleichtern. Das Aegeische Meer, die Flüchtlingslager in der Türkei werden genauso wie in  Libyen zu „Black Boxes“, in die keiner mehr hinein blicken kann. Und soll.

Sechs Monate vor Seans Verhaftung etwa stehen drei spanische Feuerwehrleute wegen Menschenschmuggel in Lesbos vor Gericht, die als Seenotretter gearbeitet hatten. Und immer mehr privaten Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer wurde die Flagge entzogen. Gleichzeitig geht das Sterben weiter: Jeder sechste überlebt die Überfahrt über das Mittelmeer nicht, laut Zahlen des UNHCR.

***

Mytilini, September 2018. Vor zwei Wochen wurde Sean zusammen mit zwei anderen humanitären Helfern der Organisation ECRI verhaftet, unter ihnen Sarah Mardini, eine Syrerin, die 2015 für mediale Aufmerksamkeit sorgte, als sie zusammen mit ihrer Schwester Yusra ein Rettungsboot mit 18 weiteren Geflüchteten schwimmend an Land zog.

Nach drei Tagen, in denen Sean in Untersuchungshaft ist, packt Fanny Binder ihre Sachen und bucht einen Flug nach Mytilini. „Es half nix“, sagt sie. „Ich musste einfach zu meinem Kind.“

Sie lässt ihr Haus in Cork hinter sich. Ihren Mann. Ihre Arbeit im Naturkostladen. Und die Gewissheit, dass ihr Sohn bald frei kommt. 

Binder läuft den Hügel zur Polizeistation empor. An ihrem Arm hängt ein Sixpack Wasser, eine Flickendecke liegt zusammengerollt auf einer Tüte mit Klopapier. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Das T-Shirt zu ihrer rechten Schulter heruntergerutscht. Ihre Hand umschließt ihr Smartphone wie eine Hantel.

Seit zwei Wochen ist ihr Leben in Besuchertage geordnet. Montag, Mittwoch, Freitag. In den Tagen dazwischen geht sie einkaufen. Wasser, Sweatshirts und Toilettenpapier für Sean. Am Wochenende bleibt sie meistens in der Wohnung. Ein Orangensaft in einem der Cafés zu trinken, bringt sie nicht übers Herz.

Duschen dürfen die Insassen auf der Polizeistation nur alle zwei Tage. Essen kann einmal am Tag von draußen bestellt werden – wobei ein Pita Brot für Mittag- und Abendessen reichen muss. Und die Nächte dringen immer kälter durch die glaslosen Gitterfenster.

Binder reicht Decke, Klopapier und Wasser an die Polizisten weiter, setzt sich hinter ein dreckiges Plastikglas und hebt den Telefonhörer ab. Auf der anderen Seite sitzt Sean. Sie sprechen über alles, außer das Gefühl, nicht zu wissen, wie lange das alles dauern wird. Von einer Woche bis 18 Monate bis zum Gerichtstermin ist alles drin.

Meistens unterhalten sie sich auf Schwäbisch, damit keiner ihre sarkastischen Witze verstehen kann. Und damit sich Sean daran erinnert, dass alles gut wird. Wie immer alles gut geworden ist, auch wenn es nicht immer einfach war.

Sean ist ihr einziges Kind. Als Binder schwanger wurde, war sie noch in der Ausbildung zur Stahlgraveurin in Pforzheim. Ihr Freund kam als Geflüchteter aus Vietnam. Sie trennten sich kurz vor Seans Geburt. „Es war nicht immer einfach“ sagt sie, die den Sohn alleine großzog. Es gab Zeiten, in denen sie nicht genau wusste, wie sie den Kühlschrank am Monatsende füllen sollte. „Irgendwie ging’s“, sagt sie knapp, „ich hatte immer Glück.“

***

Bei ihrem zweiten Besuch in der Polizeistation sagt Sean zu ihr noch, sie solle sich keine Sorgen machen. Ihr Leben in Irland nicht aufgeben. Er schaffe das. Binder nickt. Am nächsten Tag kommt sie wieder. Und am darauffolgenden Tag auch.

Nach einigen Tagen verliert Sean zum ersten Mal die Fassung. Warum sie ihn hier so lange festhalten, sie müssten doch jetzt begriffen haben, dass sie falsch liegen. „Zu dem Zeitpunkt hat seine Welt einen Knacks bekommen“, sagt seine Mutter. In einem griechischen Gefängnis länger als einen Tag in Haft zu sitzen, obwohl doch alles auf einem Missverständnis beruhe, brachte Seans Konzept von Recht und Unrecht ins Wanken.

„Wenn er etwas getan hätte, könnte man wenigstens sagen, er hat es gut gemeint, ging aber nach hinten los“, sagt Fanny. „Aber jetzt sitzt er im Gefängnis, weil er anderen Menschen geholfen hat.“

Am Tag seiner Verhaftung, einem Februarmorgen 2018, fährt Sean zusammen mit seiner Kollegin Sarah Mardini in das Auffanglager von Moria. Sie kommen in eine Fahrzeugkontrolle. Die Polizisten finden ein zweites, militärisches Kennzeichen unter dem griechischen Nummernschild.

Die Polizei beschlagnahmte die Handys und Laptops von Sean und Sarah und nahm sie auf die Polizeiwache mit. Hatten Sean Binder und Sarah Mardini etwas falsch gemacht? Sie hatten das Auto weder gekauft noch angemeldet – Sean hatte es nur gefahren. Alles andere unterlag der Verantwortung von Panos Moraitis, dem Gründer von ECRI. Er stellte sich erst einen Monat nach der Verhaftung von Sean der Polizei. 

In einem ungewöhnlich langen Statement erklärte die Polizei von Mytilini kurz nach ihrer Verhaftung, dass sich die Verdächtigen mit verschlüsselten Whatsapp-Nachrichten über die Migrationsrouten verständigt und den Funkverkehr der Küstenwache abgehört hätten, um Menschen illegal nach Griechenland zu bringen.

Auf diesen Vorwurf antwortet Moraitis einen Tag vor seiner Verhaftung am Telefon, dass die Organisation von Anfang an mit der Küstenwache und der Europäischen Grenzbehörde Frontex zusammengearbeitet hätte. Die griechische Polizei habe „zufällige Ereignisse“ miteinander verknüpft und daraus „unhaltbare Schlüsse“ gezogen.

Auch Sean Binder bestreitet die Vorwürfe. An vielen der Tage, an denen die Polizei ihm Menschenschmuggel nachweisen will, war er nicht einmal auf Lesbos. Er hatte in Irland seine Großmutter besucht, die kurz darauf verstarb.

Nach drei Wochen auf der Polizeistation wird Sean auf der Fähre in das nächstgelegene Männergefängnis auf der Nachbarsinsel Chios gebracht. Die Überfahrt dauert sechs Stunden.

Ihren Sohn in Handschellen auf die Fähre gehen zu sehen, treibt Binder den Wahnsinn ins Herz, sagt sie später.

Nach einer Woche auf Chios steht Fanny Binder zwischen Kichererbsendosen und Gaskochplatten in einer Gemeinschaftsküche, die jeden Tag für 200 Menschen im Hot-Spot-Lager von Chios kocht.

„Ich musste irgendwas tun“, sagt Binder.

Sie bindet sich ihr Halstuch um den Kopf. Ihre Hände finden schnell Messer und Tomaten. Sie wird still, während die anderen Freiwilligen lauter werden. Syrischen Kaffee mit Kardamom aufkochen. Bob Dylan aufdrehen.

Auf ihrem Arm sind blaue Flecken und Kratzspuren zu sehen. Am Morgen ist sie in der Dusche ausgerutscht. „Das Telefon hat geklingelt“, sagt sie. Ein tiefes Lachen kommt aus ihrer Brust, dann schüttelt sie den Kopf. „Irgendwann muss das alles hier vorbei sein.“

Wenn Sean wieder aus dem Gefängnis rauskommt, würde sich ihr Leben auch in Irland verändern. Wie genau, weiß sie noch nicht. Doch was sie in den letzten drein Monaten erlebt hat, lässt sie nicht mehr los. „Faltencremes“, sagt sie, „verkaufe ich auf jeden Fall nie wieder“.

Immer wieder geht ihr durch den Kopf, wie sie Weihnachten auf der Insel verbringen soll. Sie kann Sean doch nicht alleine lassen. Ob das Gefängnis am 24. Und 25. überhaupt Besucher zulässt?

13. Dezember 2018. Fanny Binder steht vor dem Spiegel in ihrem Appartement. Sie macht sich gerade fertig für eine weitere Schicht in der Solidaritätsküche, als ihr Telefon klingelt. Sean. Er komme auf 5,000 Euro Kaution frei bis zum Gerichtstermin. Binder geht vor dem Waschbecken in die Knie und übergibt sich in die Toilette.

Eine Stunde später steht sie vor ihrem Sohn. In seiner linken Hand trägt er die Flickendecke, die sie ihm in seiner zweiten Gefängniswoche gebracht hat. Sie macht noch ein Bild, dann lässt sie nach dreieinhalb Monaten das Telefon fallen.

Fanny Binder gab noch einen letzten Kochkurs im Naturkostladen. Dann flogen sie mit ihren Spohn Sean zurück nach Cork in Irland. Seitdem wartet sie auf seinen Gerichtstermin. Und Sean Das kann noch bis zu einem Jahr dauern.

Das EU-Türkei- Abkommen

Die EU vereinbarte am 18. März 2016 mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen, welches die Einreise von Flüchtlingen über die Türkei in die EU verhindern soll. Die EU zahlte dafür drei Milliarden Euro. Vergangenes Jahr kamen weitere drei Milliarden Euro dazu.

Doch drei Jahre nach dem Deal zeigt sich: Der Plan ging höchstens auf dem Papier auf. Zwar kamen weit weniger Menschen auf die Ägäischen Inseln als vor März 2016. Waren es 2015 noch über 800’000 Menschen, waren es vergangenes Jahr noch 50’000. Doch auch heute kommen jeden  Monat 1000 bis 3000 Geflüchtete über die Ägäis. So viele, dass die fünf sogenannten Hotspots auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos völlig überbelegt sind. Sie erfüllen selbst grundlegende humanitäre Standards nicht. Auf Samos befinden sich derzeit sechsmal so viele Geflüchtete wie vorgesehen.

Auch nahm die Türkei viel weniger Geflüchtete zurück, als ursprünglich erhofft. In den letzten drei Jahren wurden etwas mehr als 1000 Menschen in die Türkei zurückgeführt, vergangenes Jahr waren es nur 322.

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