Demokratie & Bürgerrechte

Pass Egal Wahl

Beinahe 1,2 Millionen Menschen österreichweit, fast jede dritte Person in Wien und 40 Prozent der im 15. Wiener Bezirk lebenden Menschen sind von der Nationalratswahl ausgeschlossen, weil sie nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Viele der Betroffenen leben schon lange in Österreich. Inzwischen betrifft der Ausschluss von Wahlen auch immer mehr junge, hier geborene und aufgewachsene Menschen, die das Wahlalter von 16 Jahren erreicht haben. Wir von SOS Mitmensch haben uns daher bereits vor Jahren Gedanken darüber gemacht, wie wir als Menschenrechtsorganisation das Problem aufgreifen und einen Beitrag zur Verbesserung leisten können.

Den größten Beitrag zur Verbesserung könnte aber natürlich die Politik leisten. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist das Wahlrecht, das in Österreich sehr eng gefasst ist. Selbst auf kommunaler Ebene sind viele hier lebende Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Andere europäische Länder handhaben das weit weniger ausschließend. Außerhalb Europas, beispielsweise in Neuseeland, dürfen dort niedergelassene Menschen sogar bereits nach einem Jahr Aufenthalt auf allen Ebenen wählen, also auch bei nationalen Wahlen.

Beinahe 1,2 Millionen Menschen österreichweit, fast jede dritte Person in Wien und 40 Prozent der im 15. Wiener Bezirk lebenden Menschen sind von der Nationalratswahl ausgeschlossen, weil sie nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben.

Ein zweiter Ansatzpunkt sind die extrem ausgrenzenden Einbürgerungsbestimmungen in Österreich. In kaum einem anderen europäischen Land gibt es so hohe Hürden für die Erlangung der Staatsbürgerschaft. Das geht so weit, dass von hier geborenen bzw. schon lange hier lebenden Menschen ein Mindesteinkommen verlangt wird, damit sie sich einbürgern lassen und demokratisch beteiligen können. Das führt zu sozialer Ausgrenzung gepaart mit Zugehörigkeitsausgrenzung und Demokratieausgrenzung. Der von der ÖVP-FPÖ-Regierung im Jahr 2005 eingeführte soziale Ausschlussmechanismus erinnert in seiner Konsequenz an das Zensuswahlrecht des 19. Jahrhunderts, als sich lediglich wohlhabende Menschen an der Demokratie beteiligen durften.

Also was tun? Der Handlungswille auf Seiten der Politik hält sich in Grenzen. Populistische Politik spielt lieber mit Ausgrenzung und Spaltung – oder verschärft sie sogar – als sie zu überwinden. Daher beschlossen wir im Jahr 2013, dass wir als Menschenrechtsorganisation nicht länger auf das Handeln der Politik warten wollen. Wir starteten eine eigene Wahl, die „Pass Egal Wahl“, bei der wir alle Menschen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, zur Wahlurne riefen, um über die hier kandidierenden Parteien abzustimmen.

Die erste „Pass Egal Wahl“ fand fünf Tage vor der Nationalratswahl 2013 statt. Unser Wahllokal platzierten wir in Wien direkt vor dem Innenministerium, das sowohl für die Abhaltung von Wahlen als auch für Staatsbürgerschaftsangelegenheiten zuständig ist. Wir wussten nicht, was uns erwarten würde, ob überhaupt Leute kommen und sich beteiligen würden. Schließlich war es nur symbolische Wahl, dachten wir.

Für einige war es das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie ein ausgefülltes Stimmkuvert in eine Wahlurne werfen durften.

Unser Wahllokal hatte fünf Stunden geöffnet. In dieser Zeit gaben mehr als 600 Menschen ihre Stimme ab, mit Pässen aus 66 Ländern. Die Stimmen wurden noch am gleichen Abend ausgezählt und das Wahlergebnis bekanntgegeben. Wenig überraschend schnitten die Parteien, die sich für eine Öffnung der Demokratie aussprechen, besser ab, als Parteien, die ausgrenzen. Doch das Wahlergebnis war sekundär, es zählte der demokratische Akt der Betroffenen.

Bei der zweiten „Pass Egal Wahl“ im Jahr 2015 nahmen bereits mehr als 1200 Menschen teil. Vor dem Wahllokal hinter dem Wiener Rathaus bildete sich zeitweilig eine fast hundert Meter lange Warteschlange. Geduldig warteten die Wählerinnen und Wähler bis zu einer Stunde, um ihre Stimme abzugeben. Wir versorgten sie dabei mit kleinen Snacks und Getränken. Doch das wäre nicht nötig gewesen, denn die Geduld und positive Stimmung waren beeindruckend.

Bei der dritten „Pass Egal Wahl“ im Jahr 2017 gab es dank Kooperationen mit Organisationen in den Bundesländern erstmals in mehreren österreichischen Städten Wahllokale. Fast 2000 Menschen nahmen an der Wahl Teil, mit Pässen aus über 70 Ländern von allen Kontinenten dieser Erde.

Im Jahr 2018 fand das erste „Pass Egal Volksbegehren“ in Kooperation mit dem Frauen*Volksbegehren statt. Mehr als 1.800 Unterschriften von Personen aus mehr als 50 Passländern wurden bei der Aktion gesammelt.

Am 24. September 2019 findet nun die nächste „Pass Egal Wahl“ statt, mit Wahllokalen in mehreren österreichischen Städten, erstmals auch in Niederösterreich und Vorarlberg. Möglich ist diese Wahl dank unserer vielen Kooperationspartner und dank der vielen Menschen, die sich für die Wahl engagieren. Ganz besonders hervorzuheben sind die vom Wahlausschluss Betroffenen, die sich dem Fotografen und Grafiker Daniel Dutkowski als Models für die Wahl-Mobilisierungskampagne zur Verfügung stellen, darunter auch einige prominente Persönlichkeiten wie Dirk Stermann, Julie McCarthy, Ilija Trojanow, Sabine Gruber, Drew Sarich und Ann Mandrella.

Wir sind und bleiben jedenfalls davon überzeugt, dass Demokratie von Beteiligung lebt, nicht von Ausschluss. Nur Beteiligung schafft Zugehörigkeit und nur Beteiligung verleiht Menschen im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme.

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