Seit spätestens 2015 ist das Thema Flucht und Asyl eines, das öffentlich viel diskutiert wird. Zu Anfang an: Welche rechtlichen Instrumente gibt es, die Flucht und Asyl in Europa, bzw. in der EU, regeln?
Man kann hier zwei unterschiedliche Bereiche sehen – wenn man das nationale Recht beiseitelässt. Auf der einen Seite hat man das Europarecht. Darunter fallen sowohl das primäre als auch sekundäre Europarecht. Primäres Europarecht ist unter anderem die EU-Grundrechtecharta, die einige relevante Bestimmungen auch im Kontext Flucht und Asyl enthält. Dann gibt es noch sekundär-rechtliche Instrumente – Verordnungen und Richtlinien – wie zum Beispiel die Dublin-Verordnung, die Aufnahmerichtlinie oder die Verfahrensrichtlinie. Das Europarecht ist ein komplexes System, in dem viele Bestimmungen ineinandergreifen und die rechtliche Situation von Flüchtlingen und ihre Beziehungen zu Staaten oder EU-Organen betreffen.
Andererseits gibt es das System von internationalen und regionalen Menschenrechten. Hier ist vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu erwähnen. Über die EMRK hinaus gibt es noch andere relevante internationale Verträge, vor allem im System der Vereinten Nationen. Im europäischen Kontext ist die EMRK jedoch am relevantesten, vor allem da sie – gemeinsam mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der ihre Einhaltung sicherstellen soll –vergleichsweise hohes Ansehen und hohe Autorität genießt.
Welche dieser rechtlichen Instrumente sind bindend? Gibt es Sanktionsmöglichkeiten, wenn es zu Verletzungen kommt?
Alle diese Instrumente sind rechtlich bindend. Sie alle haben aber unterschiedliche Mechanismen, um ihre Umsetzung sicherzustellen. Zum Beispiel: Die Europäische Menschenrechtskonvention wird, über staatliche Mechanismen hinaus, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht. Dieser kann Staaten verurteilen, sollte es zu Menschenrechtsverletzungen kommen. Einzelne, Gruppen, Organisationen oder auch Staaten haben die Möglichkeit, sich mit der Behauptung von Menschenrechtsverletzungen an den Gerichtshof zu wenden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kennt auch das System der „interim measures“ – also einstweilige Maßnahmen, die vom Gericht angeordnet werden, um einen unmittelbar bevorstehenden unwiederbringlichen Schaden abzuwenden. So kann beispielsweise eine imminent drohende Abschiebung angehalten werden, wenn damit die Verletzung des Folterverbots einhergehen könnte.
Im Europarecht wird es etwas komplexer. Hier gibt es kein vergleichbares Organ wie bei der EMRK. Es gibt zwar den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der über das Europarecht wacht, doch keine derart effektiven Möglichkeiten für Einzelne, sich an den EuGH zu wenden und Beschwerde einzulegen.
Welche Sanktionen könnte der EGMR verhängen?
Für Staaten selbst soll die Tatsache der Verurteilung Sanktion genug sein. Der EGMR könnte aber verlangen, dass ein Vertragsstaat eine gewisse Summe als „Schadenersatz“ zahlen muss. Die Durchsetzung der Entschädigung ist dem Ministerkomitee des Europarates überlassen. Eine Entschädigung ist allerdings nicht als Sanktion gegen den Vertragsstaat zu verstehen, sondern als Wiedergutmachung für Betroffene. Darüber hinaus gibt der Gerichtshof manchmal Anweisungen, wie weitere Verstöße zu vermeiden sind. Diese werden ebenfalls vom Ministerkomitee überwacht.
Aktuell untersucht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte acht Fälle von möglichen Menschenrechtsverletzungen auf den griechischen Halbinseln. Die Europäische Menschenrechtskonvention, die ja alle EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert haben, verliert aber kein Wort über Flucht uns Asyl. Warum nicht und inwiefern ist sie trotzdem in diesem Bereich relevant?
Es stimmt, dass es keine explizite Erwähnung der Rechte von Flüchtlingen oder Asylsuchenden in der Konvention gibt. Man könnte gar argumentieren, dass die EMRK ursprünglich Flüchtlinge außen vor gelassen hatte und unklar war, inwiefern die Rechte in der Konvention auch auf geflüchtete Menschen anwendbar sind. Es wurde vor allem durch die Judikatur später klargestellt, dass die EMRK auch für Flüchtlinge und Asylsuchende relevante Rechte enthält.
In den letzten Jahrzehnten haben sich manche Bestimmungen der EMRK im Kontext von Flucht als besonders kritisch herausgestellt.
Zum einen ist das der Artikel 3, das Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Dieser Artikel kommt in der Praxis einerseits zur Anwendung, wenn Vertragsstaaten unmenschlich behandeln. Im Fall von Griechenland kann man davon ausgehen, dass diese Schwelle erreicht ist und eine Verletzung von Artikel 3 vorliegt. Artikel 3 ist auch relevant im Kontext von Abschiebungen oder Push-Back-Operationen, wenn beispielsweise Flüchtlinge in Länder (sei es innerhalb oder außerhalb der EU) abgeschoben werden, wo ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Auch das Verbot der Kollektivausweisungen im 4. Zusatzprotokoll der EMRK ist hier relevant.
Darüber hinaus ist auch der Artikel 8, also das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens von größerer Bedeutung. Beispielsweise im Kontext von Familienzusammenführungen oder drohenden Abschiebungen von Menschen, die seit Jahren auf einen Asylbescheid warten und in einem Vertragsstaat privat und familiär stark verankert sind.
Zuletzt ist wohl auch das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu nennen, welches in Artikel 13 geregelt ist.
Die Länder an den EU-Außengrenzen, wie Griechenland und Italien, tragen bei der Flüchtlingsaufnahme die Hauptlast. Griechenland zeigt sich überfordert und die anderen EU-Länder sind bei der Flüchtlingsaufnahme zurückhaltend. Wir sehen die Debatte zuletzt auch in Österreich. Meine Frage ist daher: Liegt das Problem in der Dublin-Verordnung?
Die Dublin-Verordnung, die in allen EU-Mitgliedstaaten direkt Anwendung finden soll, ist bestimmt Teil des Problems, aber nicht allein entscheidend.
Dass Griechenland überfordert ist, mag zum Teil zutreffen, lenkt aber meiner Meinung nach von einem grundlegenderen und länger anhaltenderen Trend ab. Die Mitgliedsstaaten und die EU versuchen seit Jahrzehnten, Verantwortung für Flüchtlingsschutz abzugeben, auszulagern oder rechtliche Verpflichtungen zu umgehen oder gar zu ignorieren.
Darüber hinaus ist das Problem nicht auf Aufnahmebedingungen auf den Inseln beschränkt. Es ist mittlerweile recht gut dokumentiert, dass griechische Behörden unter Aufsicht der EU-Behörde Frontex illegale Push-Back-Operationen durchführen.
Zurück zur Dublin-Verordnung: Das Grundproblem, das hier deutlich sichtbar wird, ist, dass es keine tatsächlich gerechte Verteilung von Verantwortung innerhalb der EU gibt. Dem in der Verordnung verankerten Prinzip, wonach der Staat, dessen Außengrenze Asylsuchende erstmals irregulär überschreiten, die Zuständigkeit für das weitere Verfahren trägt, kommt in der Praxis die höchste Relevanz zu. Das führt unter anderem dazu, dass Länder wie Griechenland, wenn sie geflüchtete Menschen aufnehmen oder ihre Einreise ermöglichen, davon ausgehen müssen, dass sie auch für deren Asylverfahren und daran anknüpfende Verfahren und Leistungen zuständig werden.
Gespräche über mögliche Reformen der Dublin-Verordnung gibt es doch, oder?
Ja, die gibt es seit Jahrzehnten, jedoch ohne echten Fortschritt. Es herrscht eine breite Einigung darüber, dass die Dublin-Verordnung mit dem Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates nicht adäquat funktioniert. Doch eine politische Lösung ist dennoch nicht in Sicht. Zudem: Die kürzlich von der EU-Kommission präsentierten Reformpläne zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem würden die rechtlich äußerst prekäre Situation von Flüchtlingen an den Außengrenzen nur weiter verschärfen.
Eine anhaltende Verbesserung der Situation im Sinne des Flüchtlingsrechts in Europa ist eng mit der Weiterentwicklung des politischen Systems und des öffentlichen Diskurses innerhalb der EU verknüpft. Solange das Vorgehen in der EU gegenüber Flüchtlingen durch parteipolitisches und nationalstaatliches Kalkül geprägt bleibt, sehe ich wenig Hoffnung für eine Stärkung des Flüchtlingsrechts.
Was können die Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen leisten, um die Einhaltung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen, zum Beispiel in Griechenland, zu fördern?
Die derzeit laufenden Bemühungen zur Geltendmachung der Rechte von Flüchtlingen und zur humanitären Hilfe auf unterschiedlichen Ebenen können weiter gestärkt werden. Beispielsweise setzt sich die Zivilgesellschaft dahingehend ein, für einzelne Betroffene effektiven Zugang zu Asyl vor Gericht zu erwirken. Eventuell kann eine Ausweitung dieser Schiene auch dazu führen, dass das eine oder andere Lager auf den Inseln gänzlich geschlossen werden muss. Und sicher gibt es auch konkrete politische Forderungen, die zu einer Verbesserung der Situation beitragen würden und daher unterstützenswert sind.
Darüber hinaus denke ich jedoch, dass grundlegendere Ebenen zu adressieren sind. So kann Zivilgesellschaft beispielsweise zu einer Erhöhung der Qualität des öffentlichen Diskurses beitragen. Die Flüchtlingskrise an den EU-Außengrenzen kann nicht durch eine weitere Polarisierung und Ideologisierung des Diskurses oder durch die wiederholte Einforderung von Rechten gelöst werden. Es braucht den Blick auf systemische und strukturelle Mängel.
Prinzipiell gilt: Flüchtlinge sind, wie Zygmunt Bauman das so klar formuliert hat, die Boten von schlechten Nachrichten. Ihr Auftreten und die Unfähigkeit, ihnen Rechte zu gewähren, zeigen den Zusammenbruch nationalstaatlicher Ordnung auf. Daher muss die Antwort auf das Flüchtlingsdilemma vor allem darauf ausgelegt sein, neue Formen politischer Organisation und Kooperation zu gestalten, die der Interdependenz der globalen Gesellschaft gerecht werden, sodass Personen nicht rechtelos und damit defacto von der gesamten menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn sie den Schutz eines einzelnen Nationalstaats verlieren.
Adel-Naim Reyhani ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte. Sein Forschungsschwerpunkt ist das europäische Asyl- und Migrationsrecht.