Respekt & Vielfalt

Reinhold Mitterlehner: Haltung

Natürlich habe ich auch das Buch gleich nach seinem Erscheinen gelesen. Reinhold Mitterlehner ist seit 2019 Mitglied im Senior Advisory Board von Respekt.net – und wir haben uns noch nicht persönlich kennengelernt. Das wird erst beim nächsten Meeting des Beirats im Juni sein.

Die österreichische Öffentlichkeit hat sich beim Erscheinen des Buches im April vor allem auf das erste und das letzte Kapitel geschmissen, in dem der Autor die Vorgänge rund um seine Entmachtung in der ÖVP, seinen Rücktritt im Mai 2017 als Parteiobmann und Vizekanzler und den daraus folgenden Zerfall der Koalition mit den Neuwahlen schildert. Das ist klar und die entsprechenden Abschnitte lesen sich auch durchaus wie ein Krimi. Die detaillierte Erzählung des langfristigen Verrats von Sebastian Kurz an seinem Parteivorsitzenden und Chefs in der Regierung ist schon ziemlich atemberaubend. Der höfliche junge Mann, den wir seit Dezember 2017 als Bundeskanzler hatten, hat systematisch die Machtübernahme vorbereitet, an seinem Chef nicht nur vorbei, sondern richtig hinter seinem Rücken, so richtig hinterhältig. Er wollte, dass Mitterlehner den Bad Guy mimt und die Koalition sprengt, sodass Kurz dann als strahlender Retter dasteht. Und er hat das langfristig geplant: mit geheimen Treffen mit den Landespolitikern und den Bünden, mit möglichen Sponsoren, mit Industriekontakten. Alles war vorbereitet, von Logo über Farbe bis zur „message control“ – sogar, dass die Unterstützer von Kurz als „Jünger“ fungieren sollen, war schon klar. Die Papiere der Machtübernahme in der ÖVP hat der Falter 2017 als „Kurz Leaks“ veröffentlicht – sie sind also zum Glück Commons für die Zeitgeschichte.

Mit „Haltung“ bekommt dieser Parteiputsch (der ja leider inzwischen auch zu einem brutalen Rechtsruck in der Politik insgesamt geführt hat) ein Gesicht, einen Protagonisten, eine subjektive Seite.

Aber die interessierte Leserin denkt sich: OMG, wie kann man das aushalten, wo steckt man die Wut hin, wo den Frust und die Enttäuschung?

„Berichten, wie er es erlebt hat, aufzeichnen, was aus seiner Sicht passiert ist. Die Hoheit des Erzählers nicht jenen überlassen, die jetzt an der Macht sind, das sind Mitterlehners Motive,“ schreibt Barbara Tóth in ihrer Besprechung des Buches. (Falter, 16/19, 17.4.2019) Sie hat die Entstehung des Buches redaktionell begleitet.

Ich habe ja einfach gar keine Ahnung von der ÖVP (auch von keiner anderen Partei), wie sie funktioniert, warum und wie sich jemand für sie begeistern kann, was sie im Leben eines klugen und beweglichen Provinzlers ermöglichen kann. Darüber hab ich etwas gelernt, mehr was Atmosphärisches als Faktisches. Reinhold Mitterlehner schildert sich auf angenehme Weise als Kind seiner Region, dem aufstrebenden Mühlviertel, und als Kind seiner Zeit: Bildung war für ihn nur möglich, weil eine Tante durchsetzte, dass er aufs Gymnasium gehen durfte und weil es ein neues Gymnasium in Rohrbach gab. Er ist ein lebendiger Beweis für die Bildungsreform der Kreisky Zeit und er betont das auch. Beweglichkeit, Pragmatismus, Lösungen suchen. Wenn man weiß, dass er sein erstes Kind als langhaariger Erstsemestriger bekommen hat und sich die Betreuung seiner Tochter mit seiner ebenfalls studierenden Partnerin geteilt hat, ist es nicht mehr so verwunderlich, warum er immer für die gemeinsame Schule, bessere und angepasste Kinderbetreuung und andere bildungspolitische Ziele eingetreten ist, die nicht unbedingt ÖVP Mainstream waren (und sind, wie man ja leider sagen muss, wenn man sich diese unsagbare retro Haltung der vor kurzem abgelösten Regierung zur gemeinsamen Schule etwa anschaut).

Wir mussten es organisieren, denn es hat niemand sonst gemacht.

Das Kapitel über die „Flüchtlingskrise“ 2015 habe ich mit besonders wachem Kopf bin gelesen – nicht überraschend gehen unsere Wahrnehmungen hier sehr weit auseinander. Ich war mitten drin bei den Helfern (und bin es immer noch), dauernd in Traiskirchen und mit der Caritas, empört, wütend und bewegt von dem, was wir in der Zivilgesellschaft als die Trägheit, Unfähigkeit und brutale Vernachlässigung von Seiten der Politik erlebt haben. Mitterlehner schildert die Vorgänge aus der Perspektive der Macht und des Krisenmanagements der Regierung. Seine Erzählung beginnt im September 2017, mit dem legendären Datum 4.9. 2015, dem „March of Hope“ von Budapest nach Österreich.

Unsere, die zivilgesellschaftliche Erzählung beginnt im Juli 2015, als Traiskirchen eine nationale Schande wurde und wir als Bürgerinnen und Bürger dieses reichen Landes mitansehen hätten sollen, dass Menschen, die sich hierher gerettet haben, auf der flachen Wiese schlafen mussten, dass es nichts gab, buchstäblich nichts, höchstens unwillige Abwehr von Seiten der offiziellen Stellen.

Wir mussten es organisieren, denn es hat niemand sonst gemacht. Wir haben in diesem Sommer der Republik den Arsch gerettet und niemand hat das zur Kenntnis genommen – Frau Mikl-Leitner, die in dem Buch als gewiefte Krisenmanagerin aufscheint, war genauso abwesend wie der Kanzler und der Vizekanzler. Die ganze „Krise“ enstand nicht erst am 4.9., sie war schon da – das ganze Land war empört und entsetzt, wie wir hier mit Flüchtenden umgehen. Unser Tun war eine tätige Aufforderung an die Politik, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir das nicht wollen, wie Menschen hier behandelt (besser: eben nicht behandelt) wurden – diese systematische Vernachlässigung und verwahrloste Nichtbeachtung. Bei jedem Hochwasser/Sturm/Brand whatever gibt es in 24 Stunden Zelte, Sanitätsdienste und alles, was die Zivilisation zu bieten hat. Und hier? Nackter Boden, keine Duschen, kein Essen, keine Medizin. Keine Hilfe. Eine Schande, damals und immer noch.

Aber auch in diesem Abschnitt kann man lernen, dass der eben per Mißtrauensantrag aus dem Amt entfernte Bundeskanzler damals schon eine Intrige gelegt hat, die der Startpunkt seines „ich habe die Balkanroute geschlossen“-Mantras war: am Vizekanzler vorbei präsentierte er einen „5 Punkte Plan“ zur Bewältigung der Asylkrise – mit den üblichen Punkten: Asylanträge vor Ort in den Herkunftsländern, Außengrenzenschutz, Aufnahmequoten in den EU Staaten. Der Vizekanzler wusste davon nichts und musste das – überrumpelt – im Sommergespräch 2015 vertreten.

Andere Kapitel – wie etwa dem, das der pragmatischen Bewältigung der Finanzkrise gewidmet ist, kann ich nicht wirklich kundig einschätzen. Der Autor ist hörbar stolz auf die gute gemeinsame Leistung, die eine funktionierende Sozialpartnerschaft zusammengebracht hat und lobt hier sein Gegenüber Rudolf Hundsdorfer für das Augenmaß beim Krisenmanagment. Man kann das auch als implizites leidenschaftliches Plädoyer für die sozialpartnerschaftliche Verankerung der politischen Tradition in unserem Land lesen, die ja in der unmittelbar jüngsten Regierungsvergangenheit – wie so vieles andere – gelitten hat.

Ich habe das Buch sehr gerne und mit großem Interesse gelesen – viel gelernt über politisches Handwerk und Intrigantentum, und einen Menschen näher kennengelernt, dessen Geradlinigkeit und Pragmatismus mit sehr sympathisch geworden ist.

Nun hoffe ich, dass Reinhold Mitterlehner uns bei Respekt.net auch sympathisch findet und wir zusammen das zivilgesellschaftliche Projekt in Österreich vorantreiben können. Unsere Demokratie braucht ́s gerade ziemlich.

Diesen Artikel teilen

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
Email
Drucken