Demokratie & Bürgerrechte

Der Verfassungsgerichtshof als Spielball der Großparteien

Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) ist eine mächtige Institution am Ende eines Rechtsweges mit einem besonderen Einfluss in die Judikatur. Laut Verfassung besteht der VfGH aus einem Präsidenten, Vize-Präsidenten, zwölf Mitgliedern (Richter*innen) und sechs Ersatz-Mitgliedern. Ein Blick auf die Chronologie des VfGH zeigt, dass die Bestellung der Richter*innen seit jeher von politischen Kontroversen begleitet wird.

Ein Mitglied des VfGH darf laut Artikel 147 des B-VG keine Funktion in einer politischen Partei ausführen. Ideologische Haltungen oder Vorlieben zu einer Partei dringen im gerichtlichen Entscheidungsprozess nicht an die Öffentlichkeit. Abstimmungsverhältnisse bleiben geheim, Entscheidungen im Kollegialorgan getroffen.
Der Bestellvorgang der Richter*innen ist weitgehend undurchsichtig und sorgt vor allem bei Oppositionsparteien immer wieder für Kritik. Um den aktuellen Bestellmodus und die politischen Geplänkel diesbezüglich zu verstehen, muss weit in die Vergangenheit des VfGH und der Gesetzgebung zurückgeblickt werden.

Man kann sich der Tatsache nicht verschließen, daß auch Fachleute – bewußt oder unbewußt – von politischen Erwägungen motiviert werden.
Hans Kelsen, 1929

Aktueller Bestellvorgang
Präsident, Vize-Präsident sowie alle regulären Mitglieder und Ersatz-Mitglieder ernennt formal der Bundespräsident auf Vorschlag von Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat. Die Bundesregierung schlägt Präsident, Vizepräsident, sechs Mitglieder und drei Ersatz-Mitglieder vor. Jeweils drei Mitglieder tragen Nationalrat und Bundesrat mit einfacher Mehrheit heran, zwei Ersatz-Mitglieder schlägt der Nationalrat vor, ein Ersatz-Mitglied der Bundesrat. Dieser aktuelle Bestellvorgang entspricht großteils einer Novelle, welche bereits 1929 in Kraft getreten ist.

Verfassungsnovelle 1929
Mit der Bundesverfassung der 1. Republik aus dem Jahr 1920 wurde die Besetzung des VfGH geregelt und lautete wie folgt: Der Nationalrat bestellt Präsident, Vize-Präsident und die Hälfte der Mitglieder sowie Ersatzmitglieder, während der Bundesrat die andere Hälfte ernennt. Die Besetzung erfolgte nach dem Proporzsystem. Ein schriftlich festgehaltener Verteilungsschlüssel sorgte dafür, dass alle im Parlament vertretenen Parteien Mitglieder in den VfGH entsandten: Vier Mitglieder von den Christlichsozialen, drei von den Sozialdemokraten, ein Mitglied von den Großdeutschen und vier neutrale Mitglieder, welche nicht bei einer politischen Partei aktiv sein durften. Jeder Richter durfte sich auf eine breite Mehrheit im Nationalrat und Bundesrat stützen, alle Parteien des Parlaments waren im VfGH vertreten.

Die richtigungsweisende Verfassungsänderung im Jahr 1929.

Im Laufe der 20er-Jahre wurde das Verhältnis der beiden Großparteien immer feindseliger. Seit 1920 befanden sich die Sozialdemokraten nicht mehr in der Bundesregierung, jedoch allgemein im stetigen Aufschwung. Das konservative Lager brachte 1929 eine Verfassungsnovelle in die Gänge, die großteils auch heute noch die Bestellung des VfGH regelt. Unter dem Motto der „Entpolitisierung“ wurden einige Änderungen durchgeführt. Ein Dreierkomitee als Vorschlag für eine Richterstelle kam zur Einsetzung, der Bundespräsident musste aus drei vorgeschlagenen Personen ein Mitglied für den VfGH auswählen. Dieser Vorgang wurde erst 1994 wieder abgeschafft, der Bundespräsident hat bei der Auswahl aktuell keine Entscheidungsbefugnis. Die Aufteilung bei der Bestellung der Mitglieder wurde so festgeschrieben, wie sie auch heute noch gültig ist. Diese Regelung schwächte vor allem die Opposition – damals die Sozialdemokraten – und stärkte die Regierungsparteien – damals Koalition der Christlichsozialen mit der Großdeutschen Volkspartei und dem Landbund. Die Sozialdemokraten stimmten 1929 dieser Verfassungsnovelle zu, um das Rote Wien als Machtposition zu halten. Denn ursprünglich sah das konservative Lager vor, die Verwaltung der Stadt Wien von der Zentralregierung durchführen zu lassen, gewissermaßen ein Kuhhandel zwischen den beiden großen Lagern.

"[...] eine Entpolitisierung der Gerichtshöfe [...] angestrebt." in Das interessante Blatt
Die sog. Entpolitisierung bedeutet daher nur die Einschränkung des Einflusses der parlamentarischen Minderheit auf die Besetzung der Stellen von zwei Mitgliedern und einem Ersatzmitglied, und eine dementsprechende Steigerung des Einflusses der parlamentarischen Mehrheit.
Hans Kelsen, 1929

Diese Änderung war folglich keine Entpolitisierung, sondern eine reine Umpolitisierung. Das Parlament wurde geschwächt, die Bundesregierung gestärkt – die Entdemokratisierung des VfGH war geschehen.

Lange Zeit erfolgte danach die Nominierung von Richter*innen in Absprachen zwischen der beiden Großparteien SPÖ und ÖVP. Oppositionsparteien im Parlament waren an diesem Prozess ab 1929 nicht mehr beteiligt. Erst seit den 90er-Jahren müssen sich Kandidat*innen für die Richterstelle einem nicht-öffentlichen Hearing in Bundesrat und Nationalrat stellen, während die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Personen nicht angehört werden. Im Jahr 2003 kam erstmals ein Richter auf Vorschlag der damaligen Regierungspartei FPÖ in den VfGH. Klein- und Oppositionsparteien haben wenig Aussicht, bei der Bestellung von Mitgliedern mitwirken zu können. Die Bestellung der Richter*innen für den VfGH bleibt derweilen ein Spielball der Großparteien.

Demokratisierung: 90 Jahre später?
Heinrich Neisser und Tamara Ehs schreiben in ihrem Artikel: „Da die demokratiepolitische Hauptfunktion des VfGH die des Minderheitenschutzes ist, stellt ein Wahlverfahren, das selbst keinen solchen Schutz verwirklicht, ein Problem für die Demokratie dar.“

Im Sinne der Demokratie wäre eine Anpassung des Bestellvorganges wünschenswert. Die aktuelle Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein könnte als ehemalige Präsidentin des VfGH entsprechende Vorschläge für die nächste Bundesregierung unterbreiten. Wie könnte so ein Vorschlag aussehen?

  • Anpassung der zu bestellenden Mitglieder: Jeweils vier Ernennungen von Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat.
  • Einbindung der Opposition: Auswahl der Kandidat*innen mit 2/3-Mehrheit in National- und Bundesrat.
  • Abkühlphase: Vor einem Wechsel in den VfGH müssen ehemalige Mitglieder einer Partei bzw. Bundesregierung eine fünfjährige „Abkühlphase“ ab Ende der Funktion einhalten.
  • Oder Rückkehr zum Proporzsystem: Alle im Parlament vertretenen Parteien schlagen Mitglieder vor, ausgehend von einem Verteilungsschlüssel, der die jeweiligen Kräfte im Parlament abbildet.

Hinweis und Quellenangabe

Dieser Artikel beruht im historischen Kontext auf dem Bericht „Österreich: VfGB-Richterbestellung als Politikum“ von Tamara Ehs und Heinrich Neisser, erschienen 2015 im Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart.
Dankenswerterweise wurde uns dieser Bericht zur Gänze zur Verfügung gestellt, welchen Sie hier herunterladen können: Tamara Ehs / Heinrich Neisser, Österreich: VfGH-Richterbestellung als Politikum, in: Oliver Lepsius / Susanne Baer et al. (Hg.) JÖR – Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 63, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S.455-483

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