Demokratie & Bürgerrechte

Wahlrecht: Von der vollen zur defizitären Demokratie

„Am Tag X hast du die Wahl“, ist derzeit unter anderem am Wiener Rathaus zu lesen. Doch tatsächlich hat eine halbe Million der Wiener*innen gar keine oder nur eine eingeschränkte Wahl. Der Politikwissenschaftler und Demokratieexperte Gerd Valchars erklärt im Interview, wieso in Wien so viele Menschen nicht-wahlberechtigt sind und was dieser Ausschluss für die Demokratie und die Legitimation einer Stadtregierung bedeutet.

In Österreich und vor allem in Wien nimmt der Anteil jener, die nicht wahlberechtigt sind, immer weiter zu. Wieso ist die Zahl der Nicht-Wahlberechtigten in Österreich so hoch?

Hier spielen zwei Punkte zusammen: Zum einen hat Österreich im internationalen und vor allem im europäischen Vergleich ein sehr restriktives Staatsbürgerschaftsrecht. Zum anderen kennt Österreich kein inklusives Wahlrecht, das auch Nicht-Österreicher*innen einschließt – weder auf nationaler noch auf regionaler Ebene. Nur auf kommunaler Ebene gibt es ein Wahlrecht auch für Unionsbürger*innen. Diese Faktoren lassen einen Ausschluss entstehen, der in den vergangenen Jahren sukzessive angestiegen ist. Nicht zuletzt, weil das Gesetz immer restriktiver geworden ist und damit die Zahl der nicht-österreichischen Staatsangehörigen zugenommen hat.

Bleiben wir vorerst auf der Ebene des Wahlrechts: Wie äußert es sich, dass Österreich kein inklusives Wahlrecht hat?

Auf nationaler Ebene ist es weit verbreitet, dass nur Staatsangehörige des jeweiligen Landes wahlberechtigt sind. Es gibt nur fünf Staaten weltweit, die auch Nicht-Staatsangehörige inkludieren. Auf einer regionalen Ebene gibt es mehrere Staaten in Europa, die ein diskriminierungsfreies Wahlrecht besitzen. Auf kommunaler Ebene haben zwölf EU-Staaten ein völlig diskriminierungsfreies Wahlrecht. Österreich zählt zu den 13 Staaten, in denen nur Bürger*innen der Europäischen Union wahlberechtigt sind. Österreich ist diesbezüglich also nicht alleine, aber ist innerhalb der EU bei der Gruppe der restriktiven Länder.

In Summe führen all die genannten Regelungen zur Staatsbürgerschaft und zum Wahlrecht zu einem harten Ausschluss.

Und wo steht Österreich, wenn wir uns den Erwerb der Staatsangehörigkeit genauer ansehen?

Es gibt die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft bei Geburt oder durch Einbürgerung zu erwerben. In beiden Fällen ist Österreich ausschließend. Bei der Einbürgerung sind es die hohen Anforderungen: Mit der notwendigen Aufenthaltsdauer von 10 Jahren liegt Österreich hier am restriktiven Ende in Europa, während es viele andere Länder gibt, bei denen die Aufenthaltsdauer bei fünf oder sechs Jahren liegt. Dasselbe gilt für die Höhe des Einkommens sowie für die Unbescholtenheit. Außerdem muss die bisherige Staatsangehörigkeit bei der Einbürgerung abgelegt werden. Auch diesbezüglich wird Österreich zunehmend zum Außenseiter, da Doppelstaatsangehörigkeiten europaweit immer stärker akzeptiert werden. Zusammenfassend bedeutet das, dass die Kriterien für die Einbürgerung einzeln betrachtet nicht ungewöhnlich sind. Der Katalog aller Kriterien ist insgesamt jedoch sehr restriktiv. Gleichzeitig wirkt das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht auch bei der Geburt ausschließend. Nach dem sogenannten „ius sanguinis“, übersetzt das „Recht des Blutes“ wird die österreichische Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben: Hat zumindest ein Elternteil bei der Geburt eines Kindes die österreichische Staatsangehörigkeit, erwirbt das Kind ebenfalls die österreichische Staatsangehörigkeit. Zunehmend kombinieren Staaten in Europa dieses Prinzip mit einem weiteren, dem „ius soli“ („Recht des Bodens“). Dabei erhalten Kinder die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem sie zur Welt kommen, wenn die Eltern oder ein Elternteil zuvor eine bestimmte Mindestzeit in diesem Land gelebt haben. Kinder, die in Österreich zur Welt kommen und deren Eltern eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen, können nur durch eine Einbürgerung die österreichische Staatsangehörigkeit erwerben. Gut ein Drittel aller Einbürgerungen jährlich betrifft daher Personen, die in Österreich geboren wurden. In Summe führen all die genannten Regelungen zur Staatsbürgerschaft und zum Wahlrecht zu einem harten Ausschluss.

ius soli vs. ius sanguinis

An diesem Punkt möchte ich gerne anknüpfen: Sie haben Favoriten als Beispiel genommen. Dort sind 36 Prozent nicht-wahlberechtigt. Im 15. Bezirk sind es sogar 42 Prozent. Welche konkreten Auswirkungen könnte diese fehlende Repräsentation auf lokaler Ebene haben?

Die 100 Sitze im Wiener Rathaus werden auf 18 Wahlkreise aufgeteilt, die meisten dieser Wahlkreise entsprechen den Bezirken. Hat ein Wahlkreis mehr Einwohner*innen soll dieser proportional auch mehr Abgeordnete stellen. Das Problem ist aber, dass bei dieser Rechnung nur Einwohner*innen mit österreichischer Staatsangehörigkeit relevant sind. Verteilen sich die Nicht-Wahlberechtigten stark ungleich auf die Bezirke, gerät die Repräsentation in Schieflage. Ein Beispiel: Der 15. Bezirk hat rund 78.000 Einwohner*innen und aktuell 3 Mandate, der 23. Bezirk hat 106.000 Einwohner*innen, aber 6, also doppelt so viele Mandate. Der 15. ist also im Wiener Gemeinderat gemessen an seiner Bevölkerung stark unterrepräsentiert. Dasselbe gilt beispielsweise auch für den 10. und den 12. Bezirk. Und jetzt kann ich mir überlegen, was das für Auswirkungen auf die konkrete Politik hat, zum Beispiel auf die Stadtgestaltung, auf die Verkehrsplanung oder auf die Nutzung des öffentlichen Raums. Dasselbe gilt aber auch in der Sozialpolitik. Wenn ich als Politiker Personen mit geringerem Einkommen im Visier habe, mache ich eine andere Sozialgesetzgebung. Das kann sich wiederum auswirken auf Regelungen zur Mindestsicherung, auf Zugangsregelungen für geförderten Wohnbau, aber auch auf das ausschließende Wahlrecht. Denn: Diejenigen, die wahlberechtigt sind, entscheiden darüber wer wahlberechtigt sein soll. Das ist ein demokratisches Paradoxon, aus dem man schwer rauskommt. Das ist die Schwäche der Demokratie.

Gibt es trotzdem realistische Möglichkeiten aus diesem Paradoxon rauszukommen?

Es wird wohl sehr lange dauern, bis in Österreich ein Wahlrecht für Nicht-Staatsangehörige auf nationaler oder regionaler Ebene, oder selbst auf kommunaler Ebene umgesetzt wird. Dieser Aspekt des Wahlrechts ist Verfassungsrecht, es bräuchte also eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat. Ein Blick auf die aktuellen politischen Mehrheitsverhältnisse zeigt, dass wir davon weit entfernt sind. Trotzdem gibt es immer wieder den Vorstoß einzelner Länder und Kommunen, zuletzt Vorarlberg, die Änderungen beim Bundesverfassungsgesetzgeber anregen. Ein erster Schritt könnte daher sein, die Verfassung so weit zu ändern, dass die Bundesländer selbst über eine Öffnung des Wahlrechts für Nicht-Staatsangehörige entscheiden können. Anders sieht es bei den Regelungen zur Staatsbürgerschaft aus, da diese nicht im Verfassungsrecht verankert sind und daher mit einer einfachen Mehrheit im Nationalrat geändert werden können. Das wird auch laufend getan, in den vergangenen Jahren wurden sie allerdings eher verschärft. Nicht unter der aktuellen Regierung, aber unter einer nächsten oder übernächsten könnte es durchaus sein, dass es zu einer Mehrheit kommt, die eine Reform des Staatsbürgerschaftsrecht unterstützt, und einige der hohen Hürden der Einbürgerung beseitigt.

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Gerd Valchars |

Gerd Valchars ist Politikwissenschafter in Wien mit den Arbeitsschwerpunkten österreichisches politisches System, Citizenship und Migration.
Twitter-Account: https://twitter.com/g_vau

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