Demokratie & Bürgerrechte

Elefantenkurve und Demokratie

Der Schwanz des Elefanten sind die ärmsten Menschen dieser Welt – der Rüssel die reichsten.

Man kann also schön sehen, wie die Ärmsten kein bisschen von der ökonomischen Entwicklung profitiert haben, die unteren Einkommen (vor allem in den asiatischen Ländern) allerdings sehr, bis zu 80 % Einkommenszuwächse einfahren konnten (China!, aber auch Indien), die Mittelständler in Europa und den USA wiederum gar nicht (der Rüssel reicht bis zum Boden) – hier gibt es Minuseinkommen. Dann aber die ganz Reichen: steil nach oben zieht der Rüssel!

Was heißt das für die demokratische Entwicklung?

Schäfer/Zürn entwickeln aus dieser Darstellung eine bestechend klare Einschätzung: 
Erstens: Die enorme Erfolgsgeschichte des autokratischen antidemokratischen Systems in China (und Singapur) – das aber anders als klassische Despotien sehr wohl das Gemeinwohl im Auge hat, zeigt, dass die Idee, der Markt könne nur in einer Demokratie gedeihen, mit diesen gesellschaftlichen Modellen realiter widerlegt ist. Also stellt sich die Frage nach der richtigen politischen Ordnung neu.

Zweitens zeigt der Elefant die immer weiter wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern des Westens. Damit steht der Konsens in Frage, dass Demokratie und individuelle Wohlfahrt untrennbar verknüpft sind – dies war die lebensweltlichen Erfahrung der Jahre nach dem 2. Weltkrieg bis in die 90er Jahre in allen westlichen Ländern. Das stimmt so nicht mehr.

Die Folge ist eine zunehmende Entfremdung in zwei Richtungen:
Es ist eine „zunehmende Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der Selbstbestimmung“ (S. 11) eingetreten. Entscheidungen werden immer mehr in NMI (nicht majoritäre Institutionen) verlagert, die nicht durch Wahlen legitimiert sind und in Gremien arbeiten; sie entziehen sich der Kontrolle von Bürgerinnen. Zentralbanken, EU Kommission internationaler Gerichtshof sind Beispiele dafür.
Daraus folgt, dass Bürgerinnen sich von der Demokratie abwenden, weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen.

Diese „doppelte Entfremdung“ führt – das ist die Grundthese des Buches – zur demokratischen Regression – also zur Rückwärtsentwicklung bereits erreichter und für stabil  gehaltener Verhältnisse.

Die Autoren zeigen die Realität der Regression anhand einer ausführlichen Diskussion des V-Dem-Index („Varieties of Democracy“-Projekt) und der mit diesem sehr differenzierten Ansatz festgestellten Entwicklungen: www.v-dem.net 

Die demokratische Regression – wenn man sie so wie V-Dem international und im Zeithorizont betrachtet – betrifft vor allem bevölkerungsreiche Länder. Seit 2010 ging die Qualität der liberalen Demokratie in 23 Ländern um 10 Prozentpunkte zurück – in der Türkei, Polen, Serbien, Ungarn und Brasilien sogar um 20 Prozentpunkte. (S. 52)

„Demokratien sterben heute anders und langsamer (…) Erosion tritt an die Stelle von Eradikation, Absterben an die Stelle von Auslöschung.“

Was hat das mit Populismus zu tun?
Das Henne-Ei-Problem

„Wer über den Aufstieg des Populismus spricht, muss sich mit den inneren Schwächen etablierter Demokratien beschäftigen“ (S. 60) Denn die gängige Sichtweise, dass populistische Gruppierungen das Regelwerk der Demokratie schwächen, braucht den ergänzenden Blick auf die andere Seite – nämlich die Schwächen des Regelwerks und seines aktuellen Funktionierens selbst.

Ein erster Befund hier ist, dass „die soziale, ideologische und räumliche Diskrepanz zwischen den Repräsentationen und den Repräsentierten zugenommen hat“ (S. 60) Die Zusammensetzung von Parlamenten, Behörden, Beratungsgremien weicht stark und noch stärker als früher – von der Zusammensetzung der Bevölkerung ab. Nichtgewählte Gremien und Beraterstäbe treffen zunehmend Entscheidungen, die sich der öffentlichen und Bürgerkontrolle komplett entziehen. „Die mangelnde Repräsentativität in den wichtigsten Entscheidungsorganen der Demokratie ist die zentrale Ursache für den Aufstieg des Populismus und die demokratische Regression.“ (S. 61) Wir alle leben in einer „Diplomiertendemokratie“.

Das ruft die populistische Gegenbewegung hervor – die sich immerhin das Verdienst anheften kann, den Konflikt zurück in die Demokratie gebracht zu haben, die vor 2000 (circa) in einem sozialpartnerschaftlichen Dauerschlaf versunken war. Jetzt geht es wieder um was – man kann auch sagen, es geht dann gleich uns Ganze. 

Autoritär-populistische Parteien haben sich praktisch überall etabliert und geben den „Verlierern der Globalisierung“ eine Stimme – das ist nicht grundsätzlich schlecht oder undemokratisch. Sie markieren den gesellschaftlichen Ort derer, die real verloren haben und die sich mit der Gewinnerperspektive der Globalisten nicht nur nicht anfreunden können, sondern deren Verachtung auch überall zu spüren bekommen. Denn die reale Politik geht immer zugunsten der Reichen und besser Ausgebildeten aus, auch das ist ein Effekt der unfairen Repräsentativität, der sich auch quantitativ zeigen lässt.

Der moderne Konflikt in und um die Demokratie verläuft – den beiden Autoren zufolge – entlang dieser gedanklichen und identifikatorischen (natürlich auch sozialen und materiellen) Grenzlinien: zwischen denen, die sie „liberale Globalisten“ nennen und den „autoritären Populisten“: erstere sehen NMIs grundsätzlich positiv, lieben die internationalen Agenturen und Institutionen, leben oft genug davon und in ihnen und sehen Drain, auch wegen eines technokratischen „Macher“-Selbstverständnisses größere Chancen auf konkrete Umsetzung von Maßnahmen als in Wahlen und dem ganzem umständlichen Demikratiezeugs – und zeigen damit auch eine „gewisse elitäre Voreingenommenheit“ (S. 194). Die Angst vor diesem Kosmopolitismus hat die autoritären Populismen begünstigt.

Im Endeffekt, sagen die Autoren (ich stimme zu!), sind beide Konzeptionen für eine robuste demokratische Entwicklung defizitär. Die autoritären Populisten wollen Betroffene aus den Mehrheitsentscheidungen ausschließen und Bürgerinnenrechte aushebeln (Staatsbürgerschaften, Asyl, Menschenrechte sind die heißen Stichworte hier) – Globalisten wiederum befürworten Durchgriffsrechte für supranationale Institutionen ohne demokratische Willensbildung und Beteiligung an der Entscheidungsfindung.

In diesem Dilemma befindet sich die Demokratie in der Globalisierung. 

Was tun?

Die Autoren geben „Empfehlungen“ – 10 an der Zahl. Das ist ein bissl selbst technokratisch und wenig partizipativ und kommt von oben herab aus der „Expertenperspektive“. Aber gut. Was raten sie uns?

allgemein

  1. Der Technokratischen Verlockung widerstehen – mehr Demokratie statt mehr Experten.
  2. Den Bürgerinnen vertrauen: Die Politik leidet an einer „Bürgerverdrossenheit“ – Brexit, entsetzliche Wahlergebnisse in den USA, Ungarn, Brasilien. Das Volk ist dumm, so denken Angehörige der politischen Kaste oft und mit ihnen Meinungsträger und Globalisten. Rezept: Demokratiepolitik ermöglichen > Bürgerversammlungen/Bürgerinnenräte, die darüber diskutieren, „welche Vorstellungen von Demokratie die Bürgerinnen haben und welche Mitsprachemöglichkeiten sie sich wünschen. Denn fast so groß wie das Misstrauen in die Politik ist der Wunsch, mitwirken zu können. (…) Um sich auf diesen Weg einzulassen müsste die Politik aber zuerst akzeptieren, dass auch eine im internationalen Vergleich gut funktionierende Demokratie verbessert werden kann. Demokratie ist stets ein unabgeschlossener Prozess. Dabei sollte den Bürgerinnen und der Bürgerbeteiligung vertrau werden.“ (S. 208)
  3. Kontexte der Ungleichheit abbauen: Einkommensunterschiede abbauen, gleiche Chancen schaffen auf allen Ebenen (Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheit, Kultur).
  4. Falsche Reformen vermeiden: Wer Beteiligung wünscht, muss die Bürgerinnen tatsächlich entscheiden lassen – z.B. über Bürgerhaushalte, die es ja lokal vereinzelt gibt. „Falsche Reformen sind solche, die entweder den Akademikerüberschuss verstärken oder primär symbolischen Charakter haben und somit die Schere zwischen Rhetorik und Realität wachsen lassen.“ (S. 210) Zwei Dinge sind hier wichtig zu beachten: a) Die Beteiligung sollte auf Losverfahren beruhen. b) Beteiligung muss parallel mit den Beratungen von Experten und Parlamenten stattfinden, damit die Ergebnisse einen realen Impact haben können. (Der 4. Punkt ist gerade derzeit aktuell in Ö: Was wird mit den Ergebnissen des Klimarates passieren, der gerade mit großzügiger finanzieller Ausstattung geplant wird? Wir haben vorab schon gehört, dass er nur beratend wirken wird – aber was heißt das?  Wen beraten, wie beraten, wie geht die Stimme des Klimarates in die Entscheidungen ein? Gibt es dazu schon Prozedere-Ideen, liebes BMK?)
 
 Punkte 5-10 kommen im nächsten Blogpost, zusammen mit einer ausführlicheren Diskussion zu den Gründen und Wurzeln für die so erfolgreiche Entwicklung autoritär-populistischer Bewegungen.

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