Demokratie & Bürgerrechte

Was sagt die Bundesverfassung zu internationaler Solidarität?

Wer die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz, aufschlägt, liest gleich im ersten Satz: „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Diese Formulierung findet sich in der Präambel. Das ist eine Art Einleitung, die dem Grundgesetz vorangestellt ist. Aus dieser folgen keine Rechte der Bürger*innen oder unmittelbare Verpflichtungen des Staates. Er wird aber als Leitlinie oder Programm für die gesamte Verfassung verstanden. Mit dem Grundgesetz sollte nach dem 2. Weltkrieg die Basis für ein neues, demokratisches Deutschland als Teil der Weltgemeinschaft geschaffen werden.

Wer im österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nach ähnlichen Formulierungen oder Aufträgen sucht, wird nicht wirklich fündig. Hier geht es eher technisch zu: Artikel 9 B-VG hält in sehr technischer Weise fest, dass die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ als „Bestandteile des Bundesrechts“ gelten. Und er ermöglicht, dass Österreich „einzelne Hoheitsrechte“ an internationale Organisationen überträgt. In den Artikeln 23a bis 23k B-VG wird geregelt, wie verschiedene österreichische Organe (Bundesregierung, Länder, Nationalrat und Bundesrat usw.) in der Europäischen Union (EU) mitwirken. Dass Österreich Mitglied in der EU ist, wird in der Bundesverfassung nirgendwo ausdrücklich erwähnt. Im Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität geht es um die Unabhängigkeit Österreichs und die Zusage, keinem militärischen Bündnis beizutreten. Und dann gibt es noch das Bundesverfassungsgesetz über Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland. Das ist die Grundlage dafür, dass Angehörige des Bundesheeres und der Polizei an internationalen Missionen teilnehmen können.

Der Verfassungstext sollte möglichst neutral klingen und nicht allzu viele Wertentscheidungen vorgeben. Das sollte politischen Debatten überlassen werden.

Wer nach programmatischen Bestimmungen über Österreichs Rolle und Aufgabe in der Welt, die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in der Welt, internationale Zusammenarbeit und Unterstützung in der Bundesverfassung sucht, wird nicht fündig werden. Ebenso wenig finden sich konkrete Verpflichtungen z.B. der Bundesregierung, sich für Entwicklungszusammenarbeit, die Förderung von Frieden oder die Bekämpfung von Fluchtursachen einzusetzen. Was solche Aufträge und Verpflichtungen betrifft, war man in Österreich lange sehr zurückhaltend. Der Verfassungstext sollte möglichst neutral klingen und nicht allzu viele Wertentscheidungen vorgeben. Das sollte politischen Debatten überlassen werden. Dieser Zugang hat sich in den letzten Jahrzehnten insofern geändert, als eine Reihe sogenannter „Staatsziele“ in die Verfassung aufgenommen wurden. Diese betreffen etwa Umweltschutz, Wasser- und Lebensmittelversorgung oder die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Die Staatszielbestimmungen sind also sehr verschieden und folgen keinem klaren Schema. Über ihre Bedeutung sind sich Jurist*innen oft nicht einig.

Das alles kann, zugegebenermaßen, etwas verwirrend sein. Es braucht daher einen zweiten Blick, um festzustellen, dass die Bundesverfassung sehr wohl ein ganz besonderes Verhältnis zu internationaler Zusammenarbeit hat.

Jede Verfassung hat die Aufgabe, die Stellung eines Staates in der internationalen Gemeinschaft zu regeln. Mit anderen Worten: Wie offen ist ein Staat für internationale Zusammenarbeit oder wie sehr schließt er sich gegenüber anderen ab und macht damit die Zusammenarbeit schwer? Und genau an dieser Stelle geht die Bundesverfassung einen Weg, der 1920, als sie geschaffen wurde, unerhört fortschrittlich war (und es eigentlich weiterhin ist, wenn wir uns anschauen, wie sich große Staaten zunehmend aus der internationalen Zusammenarbeit zurückziehen und Politiker*innen gegen „fremdes Recht“ wettern).

Das heißt, Österreich kann im Interesse internationaler Zusammenarbeit darauf verzichten, selbst etwas zu regeln. Das ist ein zentrales Element von Solidarität.

Die technischen Regeln der Bundesverfassung öffnen diese nämlich für internationales Recht. Dessen allgemein anerkannten Regeln, das sind gewissermaßen die Grundlagen und Grundsätze internationaler Zusammenarbeit, gelten in Österreich als Bestandteile des österreichischen Bundesrechts. Die Bundesverfassung enthält keine Vorbehalte, sich in internationale Organisationen einzubringen. Sie gestattet ausdrücklich, dass Österreich Hoheitsrechte an solche abgibt. Das heißt, Österreich kann im Interesse internationaler Zusammenarbeit darauf verzichten, selbst etwas zu regeln. Das ist ein zentrales Element von Solidarität.

Ähnliches gilt auch für die Mitgliedschaft in der EU: Auch hier hat Österreich (im Unterschied zu anderen EU-Mitgliedstaaten) einen umfassenden Vorrang des EU-Rechts anerkannt und keine Vorbehalte angemeldet. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Vorgangsweise schon mehrfach bestätigt und Entscheidungen getroffen, die in ganz Europa Beachtung erfahren haben.

Gut, kann man jetzt sagen. Das klingt alles sehr nett, aber bringt es wirklich etwas? Was ist, wenn der Bundesregierung oder dem Nationalrat internationale Zusammenarbeit egal ist? Heißt es nicht, dass Österreich nur sehr wenig zur Entwicklungszusammenarbeit beiträgt? Das sind durchaus berechtigte Einwände. Sie betreffen aber politische Debatten und Schwerpunktsetzungen. Genau diese will die Bundesverfassung offenhalten. Zugleich aber steht sie jedem Versuch entgegen, zu behaupten, dass Österreich nur für sich allein in der Welt ist und alles selbst bestimmen können muss.

Diesen Artikel teilen

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
Email
Drucken