Flucht & Zuwanderung

WIR – Im Gespräch mit Judith Kohlenberger

Judith Kohlenberger ist eine kluge, großartige, sympathische Frau. Ihr Lachen mag ich besonders gern. Als ich sie dann zum Einstieg in unser Gespräch frage: „Judith, warum wir?“ sorgt das erstmal für Amüsement – bei uns beiden. Es ist der 22. Februar 2021 und ihr Essay „WIR“ ist gerade als Buch im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen. Trotz des schlechten Wetters, der inzwischen gefühlt bereits seit Ewigkeiten anhaltenden Pandemie und aller damit verbundenen Umstände und Komplikationen ist es also doch ein Feiertag.

„Die Entstehungsgeschichte des Titels ist tatsächlich lustig: Mir ist wichtig klarzustellen, dass es kein „Corona“-Buch ist“, erklärt die Autorin, und weiter: „Inhaltlich nimmt das Vorwort auf die aktuelle Situation natürlich Bezug und ich komme auch nicht ganz darum herum, einfließen zu lassen, was sich während der Pandemie tat. Aber im Grunde geht es in WIR um Dinge, die uns alle schon lange Zeit vor der Pandemie beschäftigt haben. Diese haben sich aber jetzt nochmals verdichtet, wodurch sie nur noch deutlicher zu Tage treten. Speziell die herbeigeschriebene Polarisierung und Segregation der Gesellschaft.“

Die Idee zum Buch gab es eigentlich schon seit 2019. Damals wurde Judith Kohlenberger vom Verlag kontaktiert und gefragt, ob sie nicht einen Essay-Band in der neuen Reihe „Übermorgen“ – ausgehend von ihrer Forschungsarbeit – veröffentlichen möchte. Das Spezielle an dieser Reihe ist, dass alle darin veröffentlichten Buchtitel aus einem möglichst beschreibenden Begriff bestehen.

„Meine Verlagsleiterin und ich waren uns relativ schnell einig, dass vermutlich alle potentiellen Leser*innen schreiend davonlaufen würden, wenn wir diesen Band „Integration“ nennen – und das zu Recht. Ich bin über die Begriffe „Inklusion“ und „Teilhabe“ sowie über weitere Synonyme dann schnell beim Begriff „Zugehörigkeit“ gelandet. Dieser war für mich als Titel aber immer noch nicht passend. Und dann habe ich mir gedacht: Im Grunde geht es doch um das Gemeinsame – und so bin ich zum „Wir“ gekommen.“

Verfasst hat Judith Kohlenberger ihren Essay im Frühjahr 2020 und: „Da war ganz klar ersichtlich, wie unglaublich emotionalisierend so ein „Wir“ – insbesondere in einer echten Krise – wirken kann. Denn gerade im ersten Lockdown gab es fast täglich Pressekonferenzen, in denen von der Politik immer an die Solidarität und das Gemeinsame – an dieses „nationale Wir“ – appelliert wurde. Und das macht auf der Gefühlsebene ja etwas mit den Menschen. Gleichzeitig  ist auch ersichtlich geworden, wie schnell dieses „Wir“ politisch instrumentalisiert werden kann. Und als wir uns in die Mühen der Ebene der Pandemiebekämpfung begeben haben, kam es auch ganz schnell zur bekannten Dichotomie „Wir und die anderen“. Ausgrenzungstendenzen haben sich rasch und deutlich gezeigt“, erklärt Kohlenberger. Vor allem Schlagzeilen aus dem Sommer, gemäß derer das COVID-19 Virus angeblich aus dem Ausland per Auto einreise oder die Intensivstationen voll mit Menschen mit Migrationshintergrund seien, sind sicherlich vielen von uns in Erinnerung.

Beenden wir Ausgrenzung und stärken die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, so stärken wir alle.

 „WIR“ – das stellt die ausgebildete Kulturwissenschaftlerin gleich am Anfang ihres Essays klar – ist nichts anderes als ein Konstrukt – aber mit drastischen, realpolitischen Folgen. Wer „WIR“ ist, wer also dazugehört und wer nicht, ist immer kontextabhängig. Außerdem kann jede*r von uns problemlos mehrere Zugehörigkeiten haben, also z.B. das „WIR“ als Mitglied im Sportverein und das „WIR“ im Team der Arbeitskollegen – denn diese schließen einander nicht von vornherein aus.

Allerdings gibt es aber auch Konstruktionen von „WIR“, die „Andere“ explizit oder implizit von vornherein ausschließen. Und außerdem gibt es Menschen, die vom „Dazugehören“ aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Geschlechts, sexuellen Orientierung oder anderen Dimensionen öfter ausgeschlossen werden, als andere. Unsere Identitäten, die wir vermeintlich haben oder die uns von anderen zugeschrieben werden, wirken sich somit auch direkt auf unsere Rolle im „WIR“ aus und entscheiden auch über Macht und Teilhabe: „Denn natürlich basiert das „WIR“ auf Konstrukten, aber diese sind im Alltag wirkmächtig. Und es geht mir darum, dies deutlich zu machen. Ich fühle mich ja nicht nur als Frau, oder als Migrant*in, sondern meine bzw. die mir zugeschriebenen Zugehörigkeiten bestimmen massiv meine Chancen im Leben, in meinem beruflichen Tätigkeitsfeld sowie meinen höchstpersönlichen Lebensbereichen. Die Identitäten, die uns zugeschrieben werden, haben weitreichende Folgen und bestimmen unseren Alltag. Besonders dann, wenn unsere Identität nicht weiß und männlich ist, sondern wenn man am anderen Ende des Spektrums angesiedelt sind, also mehrere gesellschaftlich marginalisierte Positionen einnimmt“

Um gesellschaftlich ein möglichst inklusives „WIR“ zu erreichen, muss das bestehende „WIR“ also immer wieder neu anpasst und erweitert werden. Diese Öffnung und Erweiterung geht aber nicht ohne „Wachstumsschmerzen“ vor sich, die dann z.B. auch in Form von Konflikten aufbrechen, was vermutlich alle Eltern nachvollziehen können.

Judith Kohlenberger plädiert für ein größeres "Wir"|

„Ich plädiere dafür, eine affirmative, d.h. bejahende Leseweise der Konflikte und Debatten, welche ja ohnehin da sind, einzunehmen. Ich leite aus diesen realen Konflikten nicht ab, dass der Kampf um ein größeres, inklusiveres „WIR“ gescheitert ist, weil wir darüber streiten und dadurch als Gesellschaft so polarisiert sind. Im Gegenteil, ich argumentiere stattdessen dafür, dass wir diese Debatten und Konflikte als ein positives Ringen um ein größeres „WIR“ sehen“, ermutigt Judith Kohlenberger ihre Leser*innen – und stellt fest: „Wo Nähe ist, entsteht unweigerlich Reibung. Durch Globalisierung, neue Medien und erhöhter Mobilität kommen vermehrt Personen in Austausch, die historisch gesehen bisher wenig oder gar nichts miteinander zu tun hatten. Auch ist der öffentliche Diskurs inzwischen wesentlich diverser und heterogener geworden, nicht zuletzt, da früher hauptsächlich ältere Männer daran teilnehmen durften. In der Wahrnehmung von außen war dieser Diskurs deshalb wesentlich homogener, als wenn sich – wie in den letzten Jahren – eben mehr und unterschiedliche Stimmen zu Wort melden. Durch diese Vielfalt wird der Diskurs dissonanter. Aber genau diese Dissonanz kann eben auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass wir gerade wieder dabei sind, unser „WIR“ zu erweitern.“

Dieser Optimismus ist keine proklamierte Sozialromantik der Autorin, denn es ist empirisch belegbar, dass das „WIR“ immer größer geworden ist, vor allem, wenn man einen Blick in die Historie wirft: „Vor etwas mehr als hundert Jahren waren zum Beispiel Frauen noch nicht Teil des „Wir“ des Wahlvolkes, mittlerweile ist das ganz selbstverständlich geworden. Dieser heutigen Selbstverständlichkeit ist sogar ein physischer Kampf vorausgegangen, der auch zahlreichen Menschen das Leben gekostet hat. Aber daran kann man nachvollziehen, dass und wie sich unser „WIR“ sukzessive erweitert. Und ich bin überzeugt, dass wir aus diesen historischen Belegen Hoffnung schöpfen können.“

Grundsätzlich möchte Judith Kohlenberger mit ihrem Essay „WIR“ allen Menschen, „die sich für ein größeres WIR engagieren“ Mut zusprechen. Denn – und auch das basiert auf empirischen Belegen – Ausgrenzung und ein verengtes Verständnis vom „WIR“ schaden der gesamten Gesellschaft. Daher macht es – vor allem als zivilgesellschaftliche*r Akteur*in – Sinn, die eigene Positionierung im gesamten „WIR“ regelmäßig kritisch zu reflektieren und zu verorten. Dabei kann es dann auch gelingen, sich der eigenen Privilegien bewusster zu werden. Außerdem kann man dann auch überall dort, wo versucht wird, das gesamtgesellschaftliche „WIR“ enger zu fassen oder aus ideologischen Gründen einzuschränken, diesen Versuchen mit guten und vor allem empirisch belegten sowie wissenschaftlich fundierten Argumenten aus dem wunderbaren Essay von Judith Kohlenberger aktiv entgegentreten.

Haben auch Sie Interesse an einem größeren "Wir"?

Judith Kohlenberger (2021): WIR – Kremayr & Scheriau

Das Buch ist entweder direkt beim Verlag oder in österreichischen Buchhandlungen zu erwerben.

AUTORIN

Judith Kohlenberger, geboren 1986, ist promovierte Kulturwissenschafterin und am Institut für Sozialpolitik der WU Wien tätig. Sie forscht zu Fluchtmigration, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe. 2019 wurde sie für eine der europaweit ersten Studien zum Fluchtherbst 2015 mit dem Kurt-Rothschild-Preis ausgezeichnet. Sie lehrt an der WU Wien und der FH Wien, schreibt für den FALTER Think Tank und engagiert sich im Expert*innenrat Migration.Integration.Teilhabe sowie im Vorstand von COURAGE – Mut zur Menschlichkeit, migrant und frida Asyl- und Fremdenrechtsberatung.

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