Armut & Sozialstaat

Wohnungslos: Als wären wir unsichtbar

“Weißt du, das Leben auf der Straße ist hart genug, aber stell’ dir vor du bist ’ne Frau – mit den ganzen betrunkenen Leuten“, erzählt er mir. „In dieser unsicheren Welt haben wir gedacht, wir tun uns lieber zusammen.“

Dies ist die Geschichte von Miriam und Benjamin*, einem wohnungslosen Paar in Berlin. An einem kalten Tag im April gewähren sie mir einen kleinen Einblick in ihr Leben auf der Straße.

Sie verbringen den größten Teil ihres Tages am Berliner Ostbahnhof, gerade reden sie mit Dennis*, einem ihrer Freund*innen.

Das Leben ist eine Herausforderung. Etwas zu essen finden, zu trinken, einen Platz zum Schlafen, und all das in der klirrenden Kälte. Aber auf der anderen Seite, sagt Benjamin*, fühlt er sich auch frei. Er kann ja tun und lassen, was er will. Was den Rahmen für diese Freiheit darstellt, wird wenig später deutlich, als die Security vom Bahnhof alle in einer täglichen Routine auf die andere Straßenseite vertreibt. Drinnen, im warmen Bahnhof, durften sie sowieso nie sein.

Ob er dieses Leben also einem mit Wohnung vorziehen würde? Ich glaube nicht. Er ist nicht gerade freiwillig in diese Situation geraten. Und die anderen? Die Caritas sagt mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung sehr deutlich: KEINE*R lebt freiwillig auf der Straße.

Immer an ihrer Seite ist Paddington Bär, den Benjamin* liebevoll zurechtrückt, als er vom Radio fällt. Es wirkt, als wäre das ein Stück Geborgenheit, vielleicht Zuhause, das sie in diesem kleinen Kuscheltier finden und auch im Einkaufswagen mitnehmen können.

Auf den ersten Blick wirkt Benjamin* mit seinem gepflegten Äußeren nicht so, wie die populäre Vorstellung einen „typischen“ Obdachlosen zeichnen würde. Nur auf den zweiten Blick fällt der Schmutz an seinen Händen auf.

Früher besaß er in Island ein Ausrüstungsgeschäft für Haustiere, er war auf Aquariumsbau spezialisiert. Dann kam die Finanzkrise, und er verlor den Laden. Seine Ehe ging in die Brüche, er bekam Krebs. Und hat alles verloren. Wenn etwas „typisch“ an Benjamins Lebenslauf ist, dann die Verkettung von Schicksalsschlägen. Wobei das ganz so einfach auch wieder nicht ist. Die Finanzkrise ist menschengemacht, und hat die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht. Finanzieller Druck übt auch Druck auf persönliche Beziehungen aus. Außerdem hängt die Gesundheit, sogar die Lebenserwartung, vom Einkommen ab. Nach offizieller Statistik verkürzt Wohnungslosigkeit die Lebenserwartung von Männern in Österreich um 20 Jahre. Was ist jetzt also nochmal genau der Grund für Benjamins Wohnungslosigkeit?

Dennis*, ihr freundlicher irischer Freund mit dem weißen Bart, beschreibt ihre Situation als Leben an der Kante. Und er sagt etwas, das mir noch lange in den Ohren hallt: „Wir sind hier, aber es ist, als wären wir unsichtbar für die Gesellschaft.“

Dabei gibt es ein Menschenrecht auf Wohnen. Verankert, schon seit 1948, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die UNO hat sogar eine Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen. Leilani Farha berichtet wie dieses Sich-Von-Der-Gesellschaft-Vergessen-Fühlen ständig in ihrer Arbeit wiederkehrt. Das ist würdelos. Folglich bezeichnet sie Wohnungslosigkeit auch kompromisslos als das, was es ist: ein Systemfehler. Es ist schon bemerkenswert, dass auch 2019 dieses Menschenrecht noch nicht umgesetzt ist.

Alkohol ist mit seiner betäubenden Wirkung ihr täglicher Begleiter. Er lässt sie die Kälte wenigstens ein bisschen vergessen. Es hört sich hart an, aber ich konnte verstehen, dass sie trinken. Ich frage Miriam*, wie sie wohnungslos geworden ist. Sie denkt kurz nach und sagt dann: „I fucked up. I completely fucked up.” Als Benjamin* merkt, dass es ihr unangenehm ist, fügt er einfühlsam hinzu: „Sie… hatte eine schwierige Vergangenheit“.

An dieser Stelle offenbart sich die Komplexität und Tragik von Wohnungslosigkeit. Natürlich ist es nicht gesund zu trinken. Doch wer friert und keine Perspektive hat, läuft eher Gefahr Alkohol oder Drogen zu missbrauchen. Und wer schon einmal in dieser Situation ist, hat es dann noch schwieriger zu einem geregelten Leben zu finden. Es ist ein Teufelskreis.

Wohnungslosigkeit hat aber noch andere Folgen. Die psychische und physische Gesundheit verschlechtert sich, die Wahrscheinlichkeit für Drogenmissbrauch steigt, Beziehungen aufrecht zu erhalten wird schwieriger, und nicht zuletzt kommt dadurch auch die Arbeitslosigkeit hinzu. Denn das ist der andere „Klassiker“: Wer keine Wohnung hat, bekommt keine Arbeit. Wer keine Arbeit hat, bekommt keine Wohnung. Dass in der Fachliteratur der Begriff „komplexes Leben“ benutzt wird, wirkt da schon fast euphemistisch. Man könnte auch sagen, Wohnungslose sind von massiver Intersektionalität betroffen.

Um mir ihren Schlafplatz zu zeigen, nehmen die beiden mich zu einem verlassenen Industriegelände mit. Als Benjamin* das Tor schließt, wirkt es fast so, als würde er sein Gartentor schließen. Irgendwie tut er das ja auch.

Die allermeisten Wohnungslosen schlafen allerdings gar nicht auf der Straße, sondern in verschiedenen Unterkünften. Für Deutschland gibt es Zahlen: da sind es über 90% der Betroffenen – die sind dann deswegen im öffentlichen Bild kaum sichtbar. Deswegen wird oft zwischen obdachlos (auf der Straße schlafen, also ohne Obdach, oder in Notunterkünften), und wohnungslos (in einer Unterkunft mit begrenzter Aufenthaltsdauer unterkommen) unterschieden. Dazu kommen dann noch ungesicherte und unzureichende Wohnverhältnisse. Da das Wort „obdachlos“ aber negativ konnotiert ist, was von nichtzutreffenden Stereotypen herrührt („die Sandler sind ja zu faul zum Hackeln“) verschleiert es die wahren Ursachen für Wohnungslosigkeit. Deswegen macht es Sinn, stattdessen das neutralere „wohnungslos“ zu verwenden.

Sie nehmen ihr ganzes Hab und Gut den fünfminütigen Weg vom Bahnhof mit hierher. Normalerweise kommen sie nur im Dunkeln, weil sie Angst haben, dass sie gesehen werden könnten. Unsicherheit, sagen sie, ist die größte Gefahr, die es für sie gibt.

Denn sogar nachts könnte jederzeit irgendjemand kommen und einfach ihre Sachen nehmen. Sie sagen, Leute wurden bei solchen Streitereien um Habseligkeiten schon umgebracht. Deswegen stellen sie den Einkaufswagen immer vor den Verschlag, in dem sie schlafen – in der Hoffnung, dass der Lärm, den er macht, wenn irgendjemand kommt, sie wenigstens rechtzeitig aufweckt.

Ich kann nur erahnen, wie sich dieses Ausgeliefertsein anfühlen muss. Das ist das Zweite, über das ich immer wieder nachdenken muss. Als ich ein paar Tage später wieder komme, wurden ihnen tatsächlich die Schlafsachen gestohlen. Immerhin ist Miriam* und Benjamin* nichts passiert.

Eine Matte und ein paar Decken sind ihr Bett. Dieser Ort ist vergleichsweise komfortabel und einigermaßen vor Wind und Regen geschützt. Hier gibt es wenigstens einen Hauch von Privatsphäre. Obwohl sie auf dem Fabrikgelände im Moment inoffiziell geduldet sind, müssen sie direkt draußen vor der zugeketteten, aber leerstehenden Halle schlafen.

Während Wohnraum leer steht, hat sich die Zahl der Wohnungslosen in Österreich von 2008 bis 2017 um über 20% erhöht. Es gibt schlicht nicht genug verfügbaren Wohnraum. Und der Wohnraum, den es gibt, ist nicht richtig verteilt. Das ist eine der größten strukturellen Ursachen.

Zu den oben genannten komplexen Gründen lässt sich eine weitere Ursache durch das Armutsrisiko beschreiben. 2017 waren laut Statistik Austria 18% der Bevölkerung armutsgefährdet. Das sind über 1,5 Millionen Menschen.

Eigentlich malt Miriam* gerne, wie am Foto auf der rechten Seite zu sehen ist. Und Benjamin* streitet sich vor Gericht immer noch mit seiner Ex-Frau um das Segelschiff. Das Leben könnte so anders sein.

Während die beiden in eine ungewisse Zukunft sehen, frage ich mich, ob wir den Fehler im System irgendwann beheben werden. Dass über 21.567 Personen wohnungslos sind, in einem der reichsten Länder dieses Planeten, macht einfach keinen Sinn.

* Aus Gründen der Privatsphäre werden die Protagonist*innen nur mit dem Vornamen genannt.

Diesen Artikel teilen

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
Email
Drucken