Armut & Sozialstaat

Du schläfst nicht richtig, nie.

Ingeborg sagt, Frauen wie sie selbst eine ist, gibt es überall, aber man sieht sie nicht. Die kleine Frau mit dem rotbraunen Zopf und der türkisen Brille führt eine Gruppe junger Leute zügig durch die Wiener Innenstadt. An Orten, an denen Touristen für eine Sachertorte anstehen und Wiener bei einer Melange in der Frühlingssonne sitzen, bleibt sie stehen; sie schlägt eine Seite in ihrem schwarzen Schnellhefter auf und zeigt sie den Teilnehmer*innen, die aufmerksam zuhören. Für die Shades Tour führt sie Menschen, die oft selbst noch nie mit Obdachlosigkeit in Kontakt gekommen sind, an Plätze des ersten Bezirks, die für obdachlose Menschen wichtige Anlaufstellen sind. Das Fenster im Franziskanerkloster zum Beispiel, an dem Essen ausgegeben wird. Oder der Burggarten, in dem vor der Einführung des Kampierverbots manche Menschen die Nacht verbrachten. Es ist einer der ersten warmen Tage im April. Ingeborg trägt Jeans und eine graue Fleecejacke, unter der eine geblümte Bluse hervorblitzt. Man sieht ihr nicht an, dass sie selbst seit etwa zwei Jahren obdachlos ist. 

Wenn man sie fragt, was sie sich heute wünscht, sagt Ingeborg, am meisten mangele es in Wien an Quartieren für obdachlose Frauen.

Damit ist sie eine von etwa 16.000 obdachlosen Menschen in Österreich. 11.000 davon leben in Wien, drei Viertel von ihnen sind Männer. Frauen sind zwar laut der Statistik seltener obdachlos als Männer, doch die Dunkelziffer jener Frauen, die in schwierigen Wohnverhältnissen leben, aus denen sie oft keine Möglichkeit haben, auszubrechen, ist hoch. Das Leben für Frauen auf der Straße ist oft härter als für obdachlose Männer. Frauen sind öfter „versteckt“  obdachlos, das heißt sie haben zwar keine Wohnung mehr, sind aber im Straßenbild nicht so sichtbar wie die obdachlosen Männer. Frauenobdachlosigkeit findet sozusagen hinter verschlossenen Türen statt und scheint deshalb auch nicht in der Statistik auf. Auch die Gründe, aus denen Frauen das Dach über dem Kopf verlieren, unterscheiden sich oft von denen der Männer.

Ingeborg wurde von ihrem Ex-Freund auf die Straße gesetzt. Nach zwölf Jahren Beziehung, in denen sie ihn für seine Arbeit durch verschiedene Länder begleitete und als Fußpflegerin arbeitete, eröffnete er ihr eines Tages, dass er die Beziehung beenden wolle. Sie zog aus, nahm nur das Nötigste mit. Den ersten Tag verbrachte sie auf den Straßen der Stadt. Vor einer Nacht auf der Straße hatte sie zu große Angst. So kam sie zur Gruft, dem Zentrum für obdachlose Menschen der Caritas, in die Barnabitengasse. Ihre Gedanken, erzählt Ingeborg, drehten sich im Kreis und überschlugen sich. Sie suchte die Schuld für ihre Situation bei sich selbst und fragte sich in dieser Zeit immer wieder: „Hätte ich es vorhersehen können?“ 

Beziehungen, die nicht mehr funktionieren, sind häufig der Grund, warum Frauen obdachlos werden. Laut einer Umfrage vom Fonds Soziales Wien aus dem Jahr 2016 ist das bei über 30 Prozent der Obdachlosen der Fall. „Der große Unterschied zwischen obdachlosen Männern und Frauen ist, dass Frauen sehr oft in Beziehungen verbleiben, weil das Leben auf der Straße für sie noch komplizierter ist als für einen Mann“, sagt Claudia Amsz, Leiterin mehrerer Mutter-Kind-Häuser der Caritas. „Auf der Straße sieht man meistens Männer, die alleine in ihren Schlafsäcken übernachten. Aber selten sieht man eine Frau so, schon gar nicht eine Mutter mit Kind.“

„Du schläfst nicht richtig, nie“, erinnert sie sich an ihre Zeit in Notquartieren.

Wer in Wien auf der Straße landet, findet oft den Weg in eine der Betreuungseinrichtungen, die Obdachlosen angeboten werden. In den Quartieren können sie sich aufhalten und ein bisschen Normalität leben: Wäsche waschen, ihr Hab und Gut aufbewahren, sich unterhalten, einen Computer benutzen. Sie können sich Hilfe bei Sozialarbeiter*innen holen und sind geschützt vor Übergriffen. Die Einrichtungen bieten ihnen einen Platz, an dem sie vielleicht sogar ein wenig abschalten können.

Abschalten konnte Ingeborg lange nicht. „Du schläfst nicht richtig, nie“, erinnert sie sich an ihre Zeit in Notquartieren. Ständig höre man, wie sich die anderen Menschen im Quartier bewegen, miteinander reden. Auch die Angst vor Übergriffen ist immer da. Bei der Shades Tour erzählt Ingeborg von einer obdachlosen Frau, die sich wochenlang nicht wusch, um sich zu schützen. Auf die Frage, ob sie sich nicht in einem Tageszentrum duschen wolle, antwortete sie: „Mich vergewaltigt sicher niemand.“ Das macht deutlich, wie wichtig Orte sind, an denen obdachlose Frauen unter sich sein können. „Dadurch, dass wir Einrichtungen ohne gemischte Notquartiere haben, bieten wir Frauen auch einen Schutzraum, wo sie keinen Übergriffen ausgesetzt sind und etwas Ruhe finden können“, sagt Amsz. 

Dabei ist Armut etwas, dass Frauen in Österreich öfter trifft als Männer.

 Die Scham ist groß, nicht für sich selbst sorgen zu können und deswegen auf der Straße leben zu müssen. Gerade für Mütter mit Kindern ist das oft die allerletzte Option. „Frau schafft alles“, meint Ingeborg, sei die Art und Weise, in der Frauen erzogen werden. Schwäche zu zeigen sei keine Option. Deshalb bleiben viele in Beziehungen, die sie im schlimmsten Fall gefährden. Wenn die Beziehung doch zerbricht, ziehen die Frauen oft von Bekannten zu Bekannten. Sie schlafen auf dem Sofa, auf dem Boden, leben mit ihren Kindern auf engstem Raum. „Da ist die Sorge vor Übergriffen, davor, sich nicht durchsetzen zu können, den Kindern sowieso nicht dieses Leben zumuten zu können, im Vordergrund“, erklärt Amsz die Beweggründe, aus denen Frauen es oft herauszögern, sich einzugestehen, dass sie obdachlos sind. „Frauen gehen dann oft Zweckgemeinschaften mit Männern ein, um die Situation möglichst lange verbergen zu können“, sagt Amsz. Dieses Schamgefühl, das mit der Obdachlosigkeit kommt, erklärt Amsz, ist bei Frauen viel stärker als bei Männern. Dadurch suchen sie sich oft nicht so schnell Hilfe, wie Männer das vielleicht tun würden. 

Dabei ist Armut etwas, dass Frauen in Österreich öfter trifft als Männer. Alleinerziehende sind die am häufigsten von Armut betroffenen Haushaltstypen. Laut einem Bericht der Statistik Austria aus dem Jahr 2014 sind 93 Prozent der Alleinerziehenden in Österreich Frauen. Fehlt ein Partner, ist das Risiko der Armutsgefährdung doppelt so hoch wie bei Paaren. Amsz verdeutlicht die Probleme, vor denen Alleinerziehende meist stehen: „Was sich durchzieht bei unseren Klientinnen, ist, dass sie kein soziales Netzwerk haben. Die meisten von ihnen haben gar nicht die Möglichkeit, arbeiten zu gehen. Da gibt es niemanden, der auf die Kinder schauen könnte.“

Die Maßnahmen, die die eben abgesetzte Regierung gesetzt hat, um ärmere Menschen zu entlasten, helfen ihnen wenig. Der seit Anfang 2019 geltende Familienbonus, der Menschen mit Kindern eine Steuerentlastung bietet, bringt unterm Strich nur Bürger*innen der Mittelklasse etwas. Die Ärmsten, zu denen Alleinerziehende oft gehören, verfügen über ein so niedriges Einkommen, dass sie ohnehin keine Steuern zahlen. Auch der Mindestsicherungsbonus, den Alleinerziehende bekommen, ist marginal: Für das erste Kind bekommen sie zusätzlich knapp über 100 Euro, für die weiteren wird der Bonus stetig weniger. In einem offenen Brief wandte sich die Österreichische Plattform für Alleinerziehende (ÖPA) Anfang April an die Regierung. Es würde damit „Armut im sprichwörtlichen Sinne“ gefördert. Die ÖPA warnt auch vor Obdachlosigkeit: „Im schlimmsten Fall können sich alleinstehende Eltern geeignete Wohnungen im gesunden Umfeld nicht mehr leisten und somit steht im Raum, dass die gesamte Familie von Obdachlosigkeit bedroht ist.“

Dazu kommt der immer angespannter werdende Wohnungsmarkt, besonders in den großen Städten. Mietpreise wachsen scheinbar in den Himmel, gleichzeitig gibt es kaum Anpassungen der Löhne. Die Gefahr, die Wohnung zu verlieren, ist dadurch für Geringverdiener*innen hoch, und das sind eben sehr oft Frauen. 78 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind weiblich, unter anderem deswegen verdienen Frauen im Schnitt in Österreich immer noch 16 Prozent weniger als Männer.

Ingeborg hat einige Zeit in der Kleiderkammer der Gruft gearbeitet, für 1 Euro 50 pro Stunde. Sie muss heute nicht mehr in Notquartieren schlafen. Derzeit lebt sie in einer Übergangswohnung auf sechs Quadratmetern, dafür zahlt sie über 200 Euro Miete. Bald wird sie ausziehen können, in eine eigene Wohnung. Sozialarbeiter*innen werden dort nach ihr sehen, um sicher zu gehen, dass sie wieder sicher auf eigenen Beinen steht. Die Arbeit bei Shades Tours gibt ihr ein Einkommen und eine Aufgabe; Dinge, nach denen sie sich in ihrer Zeit in der Gruft gesehnt hat.

Wenn man sie fragt, was sie sich heute wünscht, sagt Ingeborg, am meisten mangele es in Wien an Quartieren für obdachlose Frauen. „Es kann nie genug Plätze geben“, bestätigt Amsz, die Leiterin mehrerer Mutter-Kind-Häuser. Die Anfragen um Schlafplätze hätten laut Amsz in den letzten Jahren zugenommen, gleichzeitig werde immer weniger für diese Projekte gespendet. Was sich dagegen tun lässt? „Wir haben ein gutes, soziales Hilfswerk aufgebaut gehabt“, sagt Claudia Amsz. „Das sollte man aufrecht erhalten und nicht noch mehr in Frage stellen. Das tut unserer Gesellschaft nicht gut.“

Die Gruft in der Barnabitengasse I Credits: Caritas Wien

SPENDE HIER FÜR DAS #WIRTUN- Projekt der Caritas: Ziel ist es 1000 Übernachtungen für obdachlose Frauen zu finanzieren.

Wenn Du dich darüber hinaus weiter für obdachlose Menschen engagieren willst, hast du hier die Möglichkeit:

  • Kochen für die Gruft-  Rund 150 Mal im Jahr leisten Kochgruppen aktive, kulinarische Hilfe.  Bei Interesse einfach mit der Kochgruppe an die Koordinator*innen wenden. https://www.gruft.at/spenden/kochen-fuer-die-gruft/ , Telefon: 01/587 8754
  • Die VinziWerke sind immer auf der Suche nach Frauen und Männern, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. 
    Einfach direkt bei den Einrichtungen der VinziWerke anrufen,  oder sich im VinziHaus – der Koordinationsstelle der österreichischen VinziWerke informieren.  Tel.: +43 (0) 316 / 58 58 00, E-Mail: vinzihaus@vinzi.at

    Der Bedarf an jeweiligen Sachspenden ändert sich kontinuierlich und ist immer verschieden. In diesen Fall immer vorher bei der jeweiligen Einrichtung anrufen und erfragen was gerade in dieser Woche gebraucht wird.

 

Diesen Artikel teilen

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
Email
Drucken