Demokratie & Bürgerrechte

Österreich im Aufnahmezustand – ein Appell an die Menschlichkeit

We are the youth of today and the society of tomorrow.
And we will bear the consequences tomorrow for what you decide today.

Diese Anfangsstrophe aus Courtiers Song „Jüngstes Gericht“ wird nicht ohne Grund auf zahlreichen von Jugendlichen organisierten Protestveranstaltungen abgespielt. Egal, ob für mehr Klima- und Umweltschutz oder — wie in unserem Fall — für eine grundlegende Veränderung im Umgang mit Flüchtlingen demonstriert wird: Der Grund, warum wir auf die Straße gehen, ist weitgehend derselbe. Wir, die Kinder und Jugendlichen, sind diejenigen, die die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit übernehmen, alle Fehler und Verbrechen richten müssen, die in der Gegenwart begangen werden. Das war schon immer so, und es wird wohl auch immer so bleiben. Der Unterschied zu früheren Generationen: Bei der Generation Z beginnen viele schon sehr früh damit, aufzustehen.

Woher kommt diese aktivistische Frühreife? Obwohl es auf diese sehr persönliche und individuelle Frage zweifelsfrei mehr als eine Antwort gibt, würde ich behaupten, dass unserer Generation in einem höheren Maße bewusst ist, was wir mit unserer Stimme bewirken können. Jedenfalls war es diese Realisation, die mich dazu geführt hat, Anfang des Schuljahres die Initiative zu ergreifen. Als ehemalige freiwillige Helferin im Flüchtlingsheim Sankt Gabriel hatte ich die Möglichkeit, Flüchtlingskinder persönlich kennenzulernen und auf diese Weise die Barriere, die mich von dem Schicksal dieser Menschen getrennt hat, zu durchbrechen. Dabei wurde mir aber auch schnell klar, dass jegliche Hilfe, die ich als 13-jähriges Mädchen zu leisten in der Lage war, zu kurz kommen würde. Ich konnte zwar das Leid einiger Kinder für ein paar Stunden verringern, musste aber mitansehen, wie Familien von einen Tag auf den anderen abtauchten oder nach einem jahrelangen Asylverfahren abgeschoben wurden, wie Kinder und Jugendliche von der Unsicherheit geplagt wurden, nicht zu wissen, wie es mit ihnen weitergehen würde.

Der Drang, etwas zu tun, um die Situation zu verändern, baute sich immer weiter auf.

Als das Flüchtlingsheim schließlich geschlossen wurde und die dort lebenden Kinder mit ihren Familien in andere Unterkünfte weiterzogen, hinterließ mich das mit einem grässlichen Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit. Ich wollte weiterhin Unterstützung leisten, war mir aber gleichzeitig bewusst, dass es dringend grundlegenden Veränderungen in der österreichischen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik bedurfte, ohne die jede persönliche Hilfeleistung nur ein Tropfen auf dem heißen Stein wäre. 

Der Drang, etwas zu tun, um die Situation zu verändern, baute sich immer weiter auf. Weiterhin geisterten verstörende Bilder durch die sozialen Medien, immer wieder passierten grausame Dinge, die einem hochentwickelten Land wie Österreich sowie der Europäischen Union, die im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis (ironischer Weise für die Achtung der Menschenrechte) erhalten hat, unwürdig waren. Immer wieder zeigten Fälle wie jener der Schiffkapitänin Carola Rackete medienwirksam die großen Defizite des europäischen Asylsystems auf, während Politiker wie Gottfried Waldhäusl die hässlichsten Seiten der wahlberechtigten Österreicher*innen auf die große Bühne brachten. 

Anfang des Schuljahres fasste ich mir schließlich ein Herz und erstellte auf Whatsapp eine Gruppe, zu der ich verschiedene Bekannte und Freund*innen hinzufügte, mit denen ich etwas bewegen wollte. Unsere ersten Themen: Klima- und Umweltschutz sowie der Umgang mit Flüchtlingen in Österreich und in der EU. Einige Klimastreiks und Lesenachmittage später saßen wir in unserem virtuellen Versammlungsraum vor einem leeren Word-Dokument und überlegten, wie wir geflüchteten Menschen am effektivsten helfen könnten. Fazit: Expert*innen fragen. Mit einer Liste verschiedener Initiativen und Organisationen bewaffnet machten wir uns ans Email-Schreiben und bekamen schließlich das Angebot eines gemeinsamen Zoom-Meetings mit den beiden Aktivistinnen Elisabeth Klatzer und Gundi Dick von #zusammenHaltNÖ.

Annika Satke, Paula Dorten und Ella Hermisson |

Waren wir dem Meeting ohne bestimmte Erwartungen beigetreten, verließen wir es mit frischer Energie und Motivation: Am 13.2. würde in Mödling eine Kundgebung stattfinden und wir waren dazu eingeladen, die Organisation zu übernehmen. Fast alle Gruppenmitglieder waren sich einig, dass die Aktion eine willkommene Möglichkeit wäre, Aufmerksamkeit für die ohnehin sehr aktuelle Thematik zu erregen und Druck auf Entscheidungsträger*innen aufzubauen. 

Nach längerer Beratschlagung meldeten sich Ella, Annika, Paula und ich als fixe Beteiligte und begannen mit großzügiger Unterstützung von Elisabeth und Gundi, Poster und Handouts zu gestalten, Einladungen zu verschicken, potenzielle Redner*innen zu kontaktieren und an unseren eigenen Texten zu arbeiten, die wir bei der Kundgebung vortragen würden.

13. Februar, 16 Uhr. Der große Tag war gekommen und am Mödlinger Schrannenplatz standen trotz Wind, Kälte und Corona mehr als 100 Personen, um ein Zeichen der Solidarität mit geflüchteten Menschen zu setzen. Trotz der eisigen Temperaturen und der Aufregung, die ich vor meinem ersten Auftritt als Moderatorin verspürte, überstrahlte der Stolz und das Gefühl der Verbundenheit alle anderen Emotionen. Ich blickte hinaus auf einen bunten Haufen verschiedener Menschen, auf Plakate und Banner. Und dann ging es los.

Ramez auf der Kundgebung

„Wir dürfen uns nicht vom Staat sagen lassen, wie wir mit anderen Menschen umgehen sollen. Möchten wir Flüchtlinge so aufnehmen, dass wir 2 Meter Abstand haben, aber im Herzen schon 2 Kilometer? Oder möchten wir den Leuten zeigen, wie wir leben und ihnen dabei helfen, sich bei uns zurechtzufinden?“

Diese Worte des iranischen Flüchtlings Ramez begleiteten die Schilderung seiner Einsamkeit und beschrieben den Schmerz, den er verspürte, als er nach vier Jahren in Österreich immer noch keine gewöhnliche, österreichische Wohnung von innen gesehen hatte.

Seine Gestik, seine Wortwahl, der Ausdruck in seinen Augen machten deutlich: Ich weiß nicht, wie ich euch dazu bringen kann, diese Gefühle zu verstehen.

Auch alle weiteren Redner*innen sprachen mit einer Inbrunst und Ehrlichkeit, die das Publikum bannte und mitriss, teilten Gedanken, Erfahrungen, Frustrationen und Ängste. So beschrieb die 15-jährige Paula ihre Vorstellung vom Europa der Zukunft und malte ein Bild „vom Mittelmeer als Burggraben und Europa als eine riesige Festung, deren Tor eine Einbahnstraße Richtung draußen ist.“

Nach knapp eineinhalb Stunden in der eisigen Kälte barg auch das Ende der Kundgebung mit dem traditionellen „offenen Mikro“ eine positive Überraschung. Unerwartet meldete sich ein älterer Herr zu Wort, der auf Gehstöcke gestützt zum Mikrofon hinkte und sich als Werner Burg, Altbürgermeister von Mödling, vorstellte. In seiner spontanen, aber prägnanten Ansprache erinnerte sich Burg an seine Kindheit in einer Zeit, in der der Egoismus und die Hetze gegen Minderheiten zu schweren Verbrechen gegen die Menschheit führte. 

„Mit 87 Jahren tut man sich schwer, hier heraufzuhatschen. Trotzdem werde ich, so weit es in meinen Kräften steht, dazu beitragen, dass sich diese Zeiten nicht wiederholen. Und jetzt sehe ich alle Anzeichen dafür, dass sich manche Dinge sehr wohl wiederholen. Und daher ist es wichtig, und es freut mich, dass so viele junge Leute da sind! Dass wir aufstehen und sagen: So kann es nicht weitergehen! Ich war nie ein Befürworter davon, Gesetze zu brechen. Aber ich frage mich auch: Was ist wichtiger, das Gesetz oder der Mensch?“

Was ist wichtiger, das Gesetz oder der Mensch?

Diese abschließende Frage ist mir nicht aus dem Kopf gegangen und dreht dort inzwischen seit über einer Woche wie ein Goldfisch seine Kreise. Was ist wichtiger, das Gesetz oder der Mensch? Ist das nicht eine Frage, die sich auch weit abseits der Flüchtlingsthematik stellt? 

Als Nachklang zu dem bereits Geschriebenen möchte ich ein paar Erkenntnisse festhalten, zu denen mir die Kundgebung verholfen hat: Worte haben Kraft und überschreiten durch unser kollektives Handeln die Grenze zur Realität. Als Meister*innen unserer eigenen Worte und Handlungen haben wir die Macht, über unser eigenes Verhalten zu gebieten und bewirken damit viel, viel mehr, als wir denken.

Wir können das Leid anderer nie vollkommen nachvollziehen. Umso wichtiger wäre es, als Individuen sowie als Gesellschaft den Wert der Empathie, der Liebe und der Selbstreflexion als Werkzeuge zur Umgestaltung unseres (Zusammen-)lebens zu erkennen und davon Nutzen zu machen.

Dann will ich behaupten können, auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu sein und viel dafür getan zu haben, meine Mitmenschen vor Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit zu bewahren.

Jede*r einzelne hat eine Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen. Als privilegierte junge Frau, die das Glück hatte, im Glauben an die Moral, die Liebe und an die Gleichberechtigung erzogen worden zu sein, habe ich die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieses Glück auch anderen zuteilwird. Schließlich werden uns unsere Kinder und Kindeskinder einmal im Kontext unserer Zeit sehen. Dann will ich behaupten können, auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu sein und viel dafür getan zu haben, meine Mitmenschen vor Unmenschlichkeit und Gleichgültigkeit zu bewahren.

Als Schlusssatz meines Berichts möchte ich ein Zitat aus einem namenlosen Philosophiebuch anführen, das ich vor Jahren gelesen habe und doch noch immer im Wortlaut kenne: Jede Ethik hat ihre Zeit. Wollen wir wirklich, dass die derzeitige Ethik unserer Gesellschaft sich durchsetzt, unsere Lebenszeit prägt? Behalten wir immerzu Werner Burgs Frage im Kopf: Was ist wichtiger, der Mensch oder das Gesetz?

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