Demokratie & Bürgerrechte

Wiens Zweidritteldemokratie

Knapp eine halbe Million. So viele Wiener*innen sind von der kommenden Gemeinderatswahl ausgeschlossen. Anders ausgedrückt: Nur noch zwei Drittel der wahlfähigen Wiener*innen hat heuer die Möglichkeit, den Gemeinderat der nächsten fünf Jahre mitzubestimmen. Das restliche Drittel besitzt laut österreichischem Wahlrecht die falsche Staatsangehörigkeit. Ein Blick auf Wiens Zweidritteldemokratie.

Ein restriktiv geregeltes Staatsbürgerschaftsrecht auf der einen und ein diskriminierendes Wahlrecht auf der anderen Seite. Das sind Gründe, wieso die Demokratie in Österreich, insbesondere in Wien, zunehmend ins Wanken gerät. Der Politikwissenschaftler Gerd Valchars spricht im Interview mit derdiedasRespekt sogar von einer „defizitären Demokratie“.

Denn ein Drittel der Wiener Bevölkerung im wahlfähigen Alter ist vom zentralen Instrument der Demokratie, der Stimmabgabe, ausgeschlossen oder hat nur eingeschränkten Zugang. So haben 13,2 Prozent der Wiener*innen die Möglichkeit auf Bezirksebene, nicht aber auf Gemeinderatsebene zu wählen. Sie sind nicht-österreichische EU-Bürger*innen. Weitere 16,4 Prozent sind als Drittstaatsangehörige komplett stimmlos. Gesamt also 29,6 Prozent, die auf Gemeinderatsebene nicht wählen dürfen, aber auch von der Nationalratswahl oder von anderen demokratischen Entscheidungsprozessen wie Volksbefragungen oder Volksabstimmungen ausgeschlossen sind.

Ein Demokratiedefizit, das steigt – und zwar stark. Während Wien immer weiter wächst und dementsprechend die Zahl der Menschen im wahlfähigen Alter, sinkt die Zahl der Wahlberechtigten: Verglichen mit den Wien-Wahlen 2015 werden heuer knapp 10.000 weniger Menschen wahlberechtigt sein – obwohl im gleichen Zeitraum die Zahl der Menschen im wahlfähigen Alter um rund 80.000 zunahm. Blicken wir noch weiter in die Vergangenheit, zeigt sich, dass sich der Anteil der Nicht-Wahlberechtigten an der wahlfähigen Bevölkerung zwischen 2002 und 2019 fast verdoppelte – von 15,9 Prozent auf 29,6 Prozent.

Es ist aber auch ein Demokratiedefizit, das wienweit unterschiedlich verteilt ist: Am größten ist der Wahlausschluss in Rudolfsheim-Fünfhaus, ganze 41,7 Prozent der Menschen im wahlfähigen Alter sind in diesem Bezirk nicht wahlberechtigt. Am anderen Ende liegt Liesing mit 18,8 Prozent Nicht-Wahlberechtigten.

Eine ungleiche Verteilung mit konkreten Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Gemeinderats. So werden die 100 Abgeordneten-Sitze im Gemeinderat je nach der Größe des Wahlkreises verteilt. Allerdings orientiert sich die Größe nicht nach den tatsächlichen Einwohner*innen, sondern nach den Wahlberechtigten, also nach österreichischen Staatsbürger*innen. Dadurch sind Rudolfsheim-Fünfhaus, Margareten, Brigittenau, Favoriten oder Ottakring deutlich unter- und Hietzing, aber auch Liesing im Wiener Gemeinderat deutlich überrepräsentiert. Betroffen von Wiens Zweidritteldemokratie sind dadurch sowohl jene, die von der Stimmabgabe ausgeschlossen werden als auch Wahlberechtigte, die beispielsweise im 15. Bezirk leben. Mit ein Grund, wieso wir alle Aufmerksamkeit für diesen diskriminierenden Ausschluss schaffen sollten und dafür einstehen, dass sich Wiens Vielfalt auch in demokratischen Prozessen wiederfindet.

Es gibt einige Initiativen, die sich für ein diskriminierungsfreies Wahlrecht einsetzen. Unter anderem:

  • Die NGO SOS Mitmensch veranstaltet im Vorfeld von unterschiedlichen Wahlen in Österreich die Pass-Egal-Wahl, bei der alle wählen dürfen – unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Im Zuge dessen informiert die NGO auch über die Problematik dieses Demokratiedefizits.
  • Da besonders viele junge Menschen vom Wahlausschluss betroffen sind, setzen sich auch die Wiener Jugendzentren mit dem Thema auseinander – zum Beispiel mit der Kampagne #WIEN30.
  • EU-weit kämpft Voters without Borders dafür, dass alle politisch mitbestimmen können.

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